Erbarmungslos seziert: Neuer Roman von Rainald Goetz
Berlin - Selten ist über ein Buch so viel geraunt und gerätselt worden. Fast 30 Jahre nach seinem genialen Debüt "Irre" hat Rainald Goetz jetzt den lange erwarteten Gegenwartsroman vorgelegt. In "Johann Holtrop" seziert der deutsche Berufsprovokateur nicht nur gnadenlos die kapitalistische Wirtschaftswelt der Nullerjahre, er macht daraus eine Studie über Macht und Gier schlechthin. Doch Goetz geht mit einem derart abgrundtiefen Zynismus an sein Metier, dass ihm die Zwischentöne, die Mit-Gefühle abhandenkommen. "Wütend schritt ich voran", hat er als Motto über sein Buch gestellt. Und sich erbarmungslos daran gehalten.
Hauptfigur ist Johann Holtrop, 48, der Vorstandsvorsitzende der Assperg Medien AG, Herr über 80 000 Mitarbeiter weltweit und eine Bilanzsumme von 15 Milliarden Euro. Menschenfänger und Marketinggenie, Schaumschläger und Visionär, hat er einen kometenhaften Aufstieg hinter sich und führt das Unternehmen zu immer neuen Rekorden. Wer ihm im Weg steht, wird beiseite geräumt. "Einer weniger", sagt er, als der von ihm entlassene Leiter der Ost-Dependance ("zu alt, mental erschöpft") sich stümperhaft erhängt.
Selbst wer die Wirtschafts- und Skandalgeschichte der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre nicht so genau kennt, wird sich bei der Beschreibung Holtrops an den einstigen Bertelsmann-Manager Thomas Middelhoff erinnert fühlen. Und auch sonst müht Goetz sich redlich, die lebenden Vorbilder seines Personals möglichst wenig zu kaschieren.
Unter Decknamen spielen etwa auch Springer-Chef Mathias Döpfner, der inzwischen verstorbene Medientycoon Leo Kirch und Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf-E. Breuer mit. Andere, wie der "Basta"-Kanzler Gerhard Schröder, der frühere "Spiegel"-Chef Rudolf Augstein oder der einstige CSU-Quertreiber Peter Gauweiler, sind ganz offiziell mit von der Partie.
"Natürlich basiert dieser Roman auf der Realität des Lebens auch wirklicher Menschen", schreibt Goetz im Kleingedruckten. "Aber es ist ein Roman, Fiktion, fiktiv in jeder Figur, alles hier Erzählte auch: Werk der Literatur." Und so sollte man dieses Buch wirklich nicht als Schlüsselroman lesen, weil es um etwas ganz anderes geht. Goetz will die Mechanismen des Kapitalismus entlarven, die "totale Herrschaft" des Kapitals über den Menschen: "So falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig wie, wie wie ...". Hier fehlen selbst ihm, dem großen Wortschöpfer und Bilderzauberer, die Worte.
Anfangs zieht einen das 343 Seiten starke dunkelblaue Buch mit dem doppeldeutigen Untertitel "Abriss der Gesellschaft" wie ein Wirtschaftsthriller in den wahnwitzigen Strudel undurchsichtiger Geschäfte, stillschweigender Absprachen und immer neuer Machtkämpfe. Doch der allwissende Erzähler macht uns die Deformation seiner Figuren durch dieses System nicht wirklich deutlich, er stellt sie von vornherein und unisono als gierige Hyänen dar: Jeder hält jeden für einen Deppen, und wer das nicht weiß, ist der "absolute Superdepp".
So wird Holtrop von Kollegen beschrieben als "ein Freak, ein Irrer, ein Psychopath nur ohne Hitlerbart". Umgeben ist er von einer Armada "komplett kaputtbezahlter" Hofschranzen. Und der Firmenpatriarch ist schlicht ein "gestörter Kontaktautomat". Besonders schlecht kommt dessen zweite, jüngere Frau Kate Assperg davon - in einem "sadistischen Greisenkörper gefangen", "an der Seelenstelle (eine) Leere". Warum Goetz so undifferenziert zerstörerisch mit seinen Figuren umgeht, wird nicht klar.
Und doch hat das auf der Longlist des Deutschen Buchpreises nominierte Werk auch viele wunderbare Momente: Wie der Autor die wortlose Sprache der Macht beschreibt, das Ritual des Hahnenkampfs, die Gesten von Unterwerfung und Demütigung, Bloßstellung und Zerstörung, Sieg und Niederlage - das ist schlichtweg genial. Und aus jeder Zeile spürt man hier, dass dies nicht Beobachtung aus der Konserve ist, sondern das echte Gehabe der Alpha-Tiere. Lange genug hat Goetz mit seiner Kamera die Mächtigen aus den Vorstandsetagen der Wirtschaft und den Schaltzentralen der Politik beoachtet.
Das war es auch, was die Spannung auf dieses Buch so befördert hat. Nach dem Psychiatrie-Roman "Irre" (1983), der RAF-Geschichte "Kontrolliert" (1988) und der Techno-Erzählung "Rave" (1998) hatte es schon vor Jahren geheißen, der vielfach preisgekrönte Autor plane einen Roman über den deutschen Politikbetrieb. Später war von verworfenen Manuskripten, gar einer Schreibblockade die Rede. 2010 gestand der doppelt promovierte Historiker und Mediziner im Gespräch mit der "Zeit", er habe zwischenzeitlich sogar an einen Neuanfang als "Hilfsarzt" gedacht. "Wenn man nichts mehr schreibt, ist man kein Schriftsteller mehr."
Umso wichtiger war es dem 58-jährigen in Berlin lebenden Autor dann, seinen "Johann Holtrop" den Kritikern persönlich ans Herz zu legen. Bei einem Treffen im Büro von Suhrkamp-Pressesprecherin Tanja Postpischil gab er Anfang August die Leseexplare eigenhändig aus. Die Ansprache damals steht inzwischen auf der offiziellen Seite des Buches. "Es ist gut geworden", sagt er da stolz, "und es riecht sogar auch gut."
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