Ein Spielball der Politik
Die Darsteller verbeugen sich traditionell nicht: Der Applaus für Christian Stückls starke Neuinszenierung war bei der Eröffnung der Passionsspiele in Oberammergau dennoch groß
Es muss eine göttliche Eingebung gewesen sein, aus der heraus Spielleiter Christian Stückl der Oberammergauer Passionsspiel-Bühne ein Plexiglasdach beschert hat. Von diesem irdischen Segen profitierten die Premieren-Darsteller am Samstag: Trotz Dauerregens draußen blieben sie und ihre Kostüme trocken. Sonst hätte sich in dieser eiskalten Nacht Jesus womöglich auch ohne Kreuzigung den Tod geholt. Für die 4700 Zuschauer gab’s Fleece-Decken, die Spieler mussten sich an ihrem inneren Feuer wärmen.
Zum dritten Mal hat Christian Stückl seit 1990 die Passionsspiele inszeniert: 1990 eine vorsichtige Modernisierung des alten Daisenberger-Textes von 1860/70, dem man antisemitische Tendenzen vorwarf, 2000 die radikale Neufassung, die den innenpolitischen Machtkonflikt in Judäa ins Zentrum rückte. Sie wurde nun von Stückl und seinem zweiten Spielleiter Otto Huber noch einmal so kräftig überarbeitet, dass man wirklich von einer neuen Passion sprechen kann. Menschlicher und jüdischer war Jesus noch nie in Oberammergau, und die politischen Verstrickungen waren nie so transparent und verständlich.
Das Volk erwartet einen Befreier
Was die Wucht der sechsstündigen Aufführung in keiner Weise schmälert. Wenn Jesus auf einem Esel in Jerusalem einreitet und von der Menge mit begeistertem „Hosianna“ empfangen wird, zeigt sich Stückl heute als Meister der Massenchoreografie wie Max Reinhardt vor knapp 100 Jahren. Die fließend bewegten Volksszenen in ihrer starken Farbigkeit – das Volk trägt Blau und Grau, der Hohe Rat Safrangelb, die Römer-Besatzung martialisches Schwarz und die Apostel gedecktes Weiß – ziehen einen schnell in Bann.
Was das Volk von Jesus erwartet, ist weltliche Macht, Befreiung von der Unterdrückung durch die Römer-Fremdherrschaft. Doch was ihnen der bescheidene Wanderprediger bietet, ist die Bergpredigt, das ethische Programm des Reiches Gottes: „Liebet eure Feinde“ und „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“. Frederik Mayet zeigt diesen als Träumer verlachten Jesus als Menschen durch und durch, ohne Auftrumpfen, voller innerer Überzeugung. Von den Volksszenen verengt sich die Handlung aufs psychologische Kammerspiel: Beim bedrückten Abendmahl mit Menorah-Leuchter erkennt Jesus seinen Verräter Judas, den Carsten Lück als enttäuschten, gequälten Zerrissenen spielt. Nach einem letzten Gebetsaufschrei am Ölberg verstummt Jesus als Spielball der Politik.
Gute Darsteller
Stückl hat manche Darsteller zu erstaunlicher Reife geführt. Der Hohepriester Kaiphas (Anton Burkhart spielte vor zehn Jahren den Jesus) ist ein verzweifelter Macht-Taktierer, der im römischen Statthalter Pilatus (Christian Bierling), auf den er die Verantwortung für das Todesurteil gegen Jesus abwälzen will, seinen sadistischen Meister findet.
Die breite Vorbühne ist für die großen Auftritte von bis zu 800 Mitwirkenden leergefegt. Dafür verblüffen auf der Guckkasten-Mittelbühne Lebende Bilder, in denen Bühnenbildner Stefan Hageneier seine Lust an Farben und Kitsch auslebt. Die Bezüge zwischen den Verweisen aufs Alte Testament und der Spielhandlung erläutert dem nicht Bibelfesten aber nur der opulente Passions-Bildband. Doch die Ohren besänftigen die gekränkten Augen, denn zu diesen Tableaux Vivants tritt der wunderbare Chor auf. Statisch in einer großen Reihe bringt er Ruhe und Reflektion ins Spiel. Rochus Dedlers oratorienhafte Chor- und Orchestermusik von 1820 ist in der Bearbeitung und Ergänzung durch Markus Zwink ein starkes strukturierendes Element.
Einige wenige Einwände gibt’s doch: Der Auftritt des Königs Herodes, der von Jesus eine Wundershow verlangt, mit Dromedaren und vier Frauen hat was von billiger 1001-Nacht-Exotik. Und der Engel, der Jesus am Ölberg beisteht, ist als solcher unkenntlich, so dass man ihn verwirrt für einen Jünger hält. Gemessen an dem Wirbel um die Verschiebung der Aufführung in die Nacht bietet Stückl erstaunlich wenig pyrotechnische Effekte. Doch das sind Kleinigkeiten in einer sechs Stunden spannenden und überzeugenden Passion, die mit einer ergreifenden Kreuzigungsszene ihren Höhepunkt findet. Jesus Christus kam nur bis Oberammergau – aber es ist ein Glück, dass er dort geblieben ist.
Gabriella Lorenz
Gibt es noch Karten?
Frederik Mayet, Pressesprecher und Jesus-Darsteller: „Für die kommenden Vorstellungen am Dienstag und Donnerstag sind Restkarten an der Tageskasse vorhanden. Sie öffnet um 12 Uhr. Die Vorstellung am Samstag ist allerdings ausverkauft. Für eine Reihe späterer Termine der bis 3. Oktober dauernden Spiele können noch Karten auf der Webseite www.passionsspiele2010.de gebucht werden. Sie kosten zwischen 49 und 165 Euro. Auch Arrangements mit Übernachtung sind frei. Telefonisch gibt es Karten unter der Nummer 08822 92310.“
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