Ein brutales Jahrhundert wird bereist

Der Schrifsteller Hans Joachim Schädlich ist mit seinem Roman "Kokoschkins Reise" für den Deutschen Buchpreis nominiert
von  Abendzeitung

Der Schrifsteller Hans Joachim Schädlich ist mit seinem Roman "Kokoschkins Reise" für den Deutschen Buchpreis nominiert

Gefragt nach dem Sinn seiner Reise, wird Kokoschkin am Ende des Romans sagen: „Sie war nicht umsonst. Ich bewege mich leichter von diesen Orten fort, ohne sie zu vergessen.“ Auf knapp 200 Seiten hat die Hauptfigur in Hans Joachim Schädlichs Roman „Kokoschkins Reise“ ein Leben und die jüngere Geschichte Europas durchmessen.

Aus Amerika ist der alte Biologieprofessor in seine Geburtsstadt Petersburg gereist. Zusammen mit seinem Freund Hlavácek sitzt er im Wagen vor dem Mariinskaja-Hospital. Er kann nicht aussteigen. 1918 wurde hier sein Vater, Mitglied der Verfassunggebenden Nationalversammlung, von Bolschewiken ermordet. Es ist ein Verbrechen, mit dem das Abschreiten der Biografie einsetzt. Der 74-jährige Hans Joachim Schädlich hat, aufgewachsen in der DDR, in den 70ern selber den Druck des Systems erlebt und konnte 1977 in die Bundesrepublik ausreisen.

Über Odessa führt in seinem Roman die Flucht der Mutter und des kleinen Sohnes nach Berlin: „Wir kamen am fünfzehnten Juli Neunzehnhundertzweiundzwanzig am Schlesischen Bahnhof an. Ich war müde, aber wach“, berichtet Kokoschkin. Begleitet von Erinnerungs-Exkursionen zu Exilrussen, wie dem zwischen Lenin und Systemkritik schwankenden Gorki oder Chodassewitsch, der die Mutter unterstützt, läuft die Biografie Kokoschkins weiter über ein Templiner-Internat zur Matura. Zurück nach Berlin zur Uni. Im Schatten der Machtergreifung nach Prag und endlich in die USA.

Geraffte Geschichte

Natürlich ist die Reisehandlung ein Konstrukt, der Reisepartner Stichwortgeber für geschichtsraffende Erzählung mit persönlicher Kokoschkin-Note. Aber Schädlich schiebt in die Jahre umspannenden Biografie-Dialoge Szenen der sechstägigen Rückreise mit dem Schiff nach New York ein. Kokoschkin ist Teil einer Upper-Class-Reisegesellschaft. Mit ihm schwimmen die Architektin Olga Noborra, zu der sich Kokoschkin hingezogen fühlt, der großklappige Josk Oakley und das eher biedere Paar Josh und Lucy.

Schreitet die Erinnerung von ausgeschriebener Jahreszahl zu Jahreszahl, ist die Taktung des Lebens auf dem Schiff penibel und auf die Minute genau angegeben. Hier wird jeder Menü-Gang aufgelistet. Zeit beschleunigt sich hin zur Gegenwart bis in mikroskopische Details. Gleichzeitig erfährt sie in den sinnentleerten Dinner-Gesprächen ihren Stillstand.

Geschichte bleibt nicht stehen, aber in der Gegenwart kommt sie im Cocktailplausch an: „Ich mag die Silhouette von Manhattan ohne die beiden Türme gar nicht mehr sehen“ – verkündet Olga vor der Ankunft in New York. Am Ende seines Lebens begegnet Kokoschkin die Katastrophe als Ästhetik.

Christian Jooß

Hans Joachim Schädlich: „Kokoschkins Reise“ (Rowohlt, 192 Seiten, 17.95 Euro)

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