Dürer-Ausstellung in Nürnberg: "Ganz frischer Blick"
Der Feldhase fehlt ebenso wie die „Betenden Hände“. Bekanntlich ist auch das Selbstbildnis im Pelzrock in München geblieben. Aber niemand dürfte diese drei Dürer-Ikonen vermissen. Denn die Nürnberger haben, was den meisten Kunstausstellungen fehlt: Das Team um Daniel Hess formuliert vier steile Thesen zum Frühwerk des Malers, die in der größten deutschen Dürer-Ausstellung seit 40 Jahren sinnlich begründet werden.
In der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums lagern 27 Regalmeter Dürer-Literatur. Trotzdem ist zu diesem Künstler längst nicht alles gesagt. Drei Jahre wurde erforscht, warum dieser Maler ausgerechnet in Nürnberg zu einem Großen der Europäischen Kunst wurde. Und es gelang auf diese Weise, die romantische Genie-Ästhetik hinter sich zu lassen.
1. DER START-UP-UNTERNEHMER
Viele Kunsthistoriker feiern Dürers frühe Selbstbildnisse als Befreiung des Individuums und Überwindung der mittelalterlichen Handwerks-Malerei. Die Nürnberger Ausstellung hängt die Bilder niedriger: Vielleicht hat Dürer seine Selbstporträts auch als Werkstattmuster gemalt – nach dem Motto „Schaut, so gut kann ich malen!“ als Werbung für sein Start-up-Unternehmen. Porträts waren in Nürnberg seit 1450 in Mode. Das dortige Bürgertum hielt in Familienchroniken wichtige Ereignisse fest und wollte späteren Generationen Porträts der Vorfahren hinterlassen.
2. DAS LERNENDE GENIE
Der zweite Teil der Ausstellung widmet sich Dürers Lehrern und Vorbildern. Von Hans Pleydenwurff und Michael Wolgemut lernte Dürer neue Maltechniken, aktuelle Geistesströmungen und Möglichkeiten der Kunstvermarktung. Er musste nicht erst nach Italien reisen, um eine neue Kunst über die Alpen zu bringen. Sie war längst in Franken. Das zentrale Werk dieses Teils ist die Haller-Madonna, die man auf den ersten Blick für keinen Dürer halten würde und trotzdem als Plakat für die Ausstellung wirbt. Sie zeigt, wie sehr sich der Nürnberger an Italienern wie Giovanni Bellini oder Andrea Mantegna orientierte.
3. DER DRAMATIKER
Große Kunst, so Dürer, müsse durch „rechte Gewalt“ überzeugen. Damit meinte er jene Kraft, die ein Werk auf die Sinne des Betrachters ausübt und ihn gefangen nimmt. Die suggestive Rhetorik Dürers belegt die Ausstellung mit der Anbetung der Könige aus den Uffizien, die eine Gruppe Berittener und die reizvolle Stadt im Hintergrund belebt. Höhepunkt dieses Teils ist ein eigenes Kabinett mit den Holzschnitten zur Offenbarung des Johannes, die 1498 den europäischen Ruhm des 27 Jahre alten Künstlers begründeten. Selbst das eher beschauliche Leben des Heiligen Benedikt verwandelte Dürer in einen dramatischen Glasgemäldezyklus für eine Nürnberger Kirche. Leider sind dazu nur einige Skizzen erhalten.
4. WAS IST KUNST?
Der letzte Teil rückt Dürers freie Studien ins Zentrum. Sie sind nach Ansicht der Ausstellungsmacher autonome Kunstwerke um ihrer selbst willen. Zeichnungen analysieren Proportionen, Aquarelle eines Rindermauls wollen nicht die Natur abbilden – sie beschäftigen sich mit dem Gegensatz zwischen feucht und trocken als kunstimmanenter Frage. Am Ende der Ausstellung stehen zwei schmerzverzerrte Köpfe, die der kranke Dürer gezeichnet hat – wie ein moderner Künstler als stellvertretend Leidender.
Die Nürnberger haben über 200 Leihgaben aus der ganzen Welt versammelt. Ein „Dürer-Labor“ gibt mit spielerischen Mitteln und auf Tablets Einblick in die kunsthistorische Forschung. Mit über 100.000 Besuchern rechnen die vorsichtigen Ausstellungsmacher. Es ist keine Schande, dem Herdentrieb zu folgen und sich in die Schlange einzureihen. Sinnlicher belehrt hat man selten eine Ausstellung verlassen.
Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 24. Mai bis 2. September, Di bis So, 10 bis 18 Uhr, Eintritt 8 Euro
Das Rahmenprogramm zur Ausstellung haben wir zum Download.
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