Drei Worte - ein Gedicht

Heute übernimmt Holger Pils das Lyrik Kabinett in der Amalienstraße. Zum Start stellt er Mittwoch, 19.3., den Dichter Tuvia Rübner vor. Für AZ-Leser hat er ein (sehr kurzes) Gedicht schon einmal interpretiert.
Holger Pils |
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Heute übernimmt Holger Pils das Lyrik Kabinett in der Amalienstraße. Zum Start stellt er Mittwoch, 19.3. den Dichter Tuvia Rübner vor. Für AZ-Leser hat er ein (sehr kurzes) Gedicht schon einmal interpretiert

Über die Flüchtigkeit des Lebens

Noch

Nicht

Mehr
Tuvia Rübner

Die Interpretation

Kürzer geht’s kaum. Ist das überhaupt ein Gedicht? Die Fragen, die wir uns üblicherweise stellen – nach Metrum, Vers, gar Reim – scheinen überflüssig. Der Dichter Tuvia Rübner gibt sich im wahrsten Sinne des Wortes einsilbig. Dreimal einsilbig. Aber hier fehlt nichts.

Intuitiv können wir – wie bei einem Bild – mit einem Blick erfassen, welcher „Flüchtigkeit“ das Gedicht Ausdruck verleiht, denn es ist selber „flüchtig“.

Und es „bildet“ den zentralen Gedanken ab, der sich gar nicht weiter „verdichten“ lässt: Es ist der überraschende Moment einer Einsicht: in unsere Vergänglichkeit.

Das Gedicht greift nach dem Leben mit drei Worten. Mit ihm geht es, wie mit dem Leben selbst: Kaum hat es angefangen, ist es auch schon vorbei. Etwas ist „Noch Nicht“ richtig losgegangen, da ist es auch schon „Nicht Mehr“. Oder in der gut gemeinten Variante eines Ratschlags: Wir sollten vielleicht nicht zu lange aufschieben, was wir „Noch Nicht“ getan haben, denn irgendwann können wir es vielleicht „Nicht Mehr“. Und so kann jeder das Wortspiel weiterspielen.

Rübners Kunstgriff: Das Wort „Nicht“ steht zwischen den Zeilen, gehört genauso zum „Noch“ wie zum „Mehr“. Es wird doppelt gebraucht und schafft so verschiedene Lesarten der Wortfolge. Wer's akademisch mag, nennt die rhetorische Figur ein Apokoinu.

„Ich bin kein Denker. Ich schreibe Gedichte“, sagt Tuvia Rübner. Das ist ein sympathisches Understatement, denn hinter dem Gedicht verbergen sich große Gedanken, vielleicht auch der, dass Leben Gegenwart ist. Und dass es diese Gegenwart wiederum gar nicht gibt, so dass genau im Zentrum des Gedichts das „Nichts“ steht.

In der Nachfolge des Augustinus

In diese Richtung hat schon Augustinus über den flüchtigen Moment der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft nachgedacht, zwischen „Noch Nicht“-Sein und „Nicht Mehr“-Sein.

Nun, zugegeben: Dass wir auf diese Gedanken kommen, verdanken wir nicht zuletzt der Überschrift. Kurioserweise ist sie länger als das Gedicht selbst. Das könnte auch ein ironischer Kommentar zu unserem Interpretationswahn sein. Wir wollen wissen: „Worüber spricht das Gedicht?“ Die Antwort, voilà, liefert seine Überschrift selbst: „Über die Flüchtigkeit des Lebens“. Ein ernster Gedanke in einer spielerischen Form, die uns über drei kleine, alltägliche Worte unserer eigenen Sprache stolpern lässt und eigene Gedanken anstößt.

Ein bewegtes Leben

Der das dichtet, weiß einiges über das Leben, seine Flüchtigkeit und seine Dauer: Tuvia Rübner ist gerade 90 Jahre alt geworden. Als Kind konnte er sein Leben vor den Nationalsozialisten retten. Geboren in Preßburg (Bratislava), floh er 1941 nach Palästina.

Rübner schreibt heute wieder auf Deutsch und Hebräisch und ist einer der großen Dichter seines Landes, in Deutschland aber noch viel zu wenig bekannt. Er kann sich immer noch wundern und schreibt atemberaubende Gedichte. Sein neuer Gedichtband heißt „Wunderbarer Wahn“.

Am Mittwoch, 19.3.,  stellen wir ihn um 20 Uhr im Lyrikkabinett in der Amalienstr. 83 / Rückgebäude vor: „Wunderbarer Wahn“, Tuvia Rübner zum 90. Geburtstag. Lesung: Bernhard Albers, Gespräch: Heinrich Detering und Reinhard Kiefer, 7 Euro, info@lyrik-kabinett.de

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