Drei Engel für Chris
Ihren Dauerkritikern zum Trotz liefern die No Angels im Atomic ein großartiges Konzert ab
Die Türen blieben bis 20 Uhr verschlossen, die Schlange der Wartenden füllte die halbe Neuturmstraße. Offenbar wurde drinnen im Atomic Cafe von den No Angels noch in aller Schnelle umarrangiert, nachdem Nadja Benaissa, viertes Mitglied von Deutschlands berühmtester Castinggruppe, kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt hatte.
Das Stammpublikum des Atomic hatte seit Tagen über diesen Auftritt gestritten, schließlich ist dort die Gitarrenszene zu Hause, die auf Einfliegen von Engeln dieser Art in ihr Wohnzimmer so allergisch reagiert, als würde man die Death-Metaler von Slayer zu den Passionsspielen in Oberammergau bringen. Doch Atomic-Chef Chris Heine ist nicht nur ein liberaler Mensch, er hat offenbar auch geheime Leidenschaften: Als die drei Rest-Angels schließlich auf der Bühne standen, sah man ihn hingerissen auf der Bar knieend mit dem Handy Fanfotos schießen.
Der Auftritt zeigte, wie schade es ist, dass jeder aufrechte Kulturspießer die No Angels auch zehn Jahre nach ihrer Erschaffung im medialen Reagenzglas für einen Vorboten des Untergangs der Zivilisation hält: Die Mädels haben nicht nur Charme und sehen live noch besser als auf Fotos aus – sie sind vor allem absolut ernst zu nehmende Musikerinnen.
Zwar starteten Lucy, Sandy und Jessica in das chronologisch sortierte Programm (von „Daylight“, 2001, bis „One Life“, 2009) so chaotisch, dass es dafür beim Casting eine Generalvernichtung gegeben hätte (was ihnen so oder so heute wurst sein kann). Doch nach etwa einem Drittel des anderthalbstündigen Vortrags war das Einspielen des neugefundenen Trios erfolgreich abgeschlossen – und die Engel hoben ab: Funk, Salsa, schwerer Soul, ein bisschen Blues, alles fröhlich dahingeschmettert, nicht klinisch perfekt, sondern mit Seele. Es war alles frisch und manchmal ein wenig nostalgisch, es britzelte und swingte auf der Bühne. Großer Jubel. Darf man es großartig nennen, ohne die kulturelle Reputation zu gefährden? Chris Heine ging sich jedenfalls nach der Show ein Autogramm holen.
Michael Grill