Die Wildnis ruft aus dem Wolfsrudel
Der lettische Regiestar Alvis Hermanis bringt Jack Londons Romanklassiker auf die Bühne der Kammerspiele
Tiere und Kinder auf der Bühne – das ist ein großes Tabu. Denn mit ihrer Präsenz stehlen sie leicht jedem Profi die Schau. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis, 45, ist da anderer Meinung: „Sie zwingen die Schauspieler zu mehr Energie und erhöhen damit die Glaubwürdigkeit.“ Als zweite Premiere der neuen Kammerspiele-Ära unter Johan Simons inszeniert er „Ruf der Wildnis“ nach Jack London – mit sechs Schauspielern und sechs Hunden. Heute ist Uraufführung.
Lettlands Regiestar inszeniert in seinem Neuen Theater Riga seit 18 Jahren Aufführungen im Kollektiv – orientiert an realen Menschen, über die seine Schauspieler recherchieren. Nun wagt Alvis Hermanis auch in München die Kollektiv-Arbeit. „Ruf der Wildnis“ erzählt die Geschichte des Schäferhund-Mischlings Buck, der als Schlittenhund in Alaska landet. Dort muss er sich im Gespann durchsetzen und wird zum Leithund. Am Ende schließt er sich einem Wolfsrudel an.
Das Destillat des Hundehalters als Bühnenfigur
Hermanis erzählt den bekannten Roman nicht einfach nach. Er bat seine Schauspieler, Hundehalter zu suchen und aus ihnen Bühnen-Figuren zu destillieren. „Jetzt ist es eine Geschichte über sechs Hunde und sechs reale Personen“, sagt er. „Nur noch zehn Prozent des Textes sind von Jack London, als Bindemittel. Die anderen 90 Prozent haben die Schauspieler geschaffen – sie sind die wahren Autoren.“
Einer der Hunde gehört der Schauspielerin Annette Paulmann, die andern fünf sind Film-Stunthunde. „Aber erwarten Sie nicht zu viel von den Hunden“, warnt Hermanis. „Oft sind sie nur Teil des Bildes. Denn es ist kein Stück über Hunde, sondern über Menschen. Die Schauspieler verwandeln sich in Hunde.“
Jack London schildert Zähmung und Selbstbefreiung. „Das kann eine Metapher sein, dass jemand ultimative Kraft, Freiheit und Schönheit erlangt und mit der Natur verschmilzt“, meint Hermanis. „Unsere Zivilisation ist oft ein Gefängnis unseres Seins, und viele träumen von der großen Freiheit, dem großen Ausbruch. Aber wir stellen die Story nicht in einen sozialen oder politischen Kontext. Zu behaupten, man müsse ein Wolf werden, wäre zu einfach.“ Der große Ausbruch ist ein Thema, das Hermanis immer wieder beschäftigt: „Als ich Student war, lebte Lettland hinter dem Eisernen Vorhang. Viele dachten, der große Ausbruch sei nur ein Rüberspringen in die westliche Welt – da gab es viele Enttäuschungen.“
Er stellt nochmal klar: „Wer einen netten, sentimentalen Abend erwartet, wird enttäuscht sein. Das ist kein süßes Theater mit Tieren, sondern eine Performance, die vielleicht auch metaphysisches Gebiet betritt.“
Gabriella Lorenz
Kammerspiele, heute und Sonntag, 19.30 Uhr, Karten unter Tel. 23396600