Die wild entschlossene Flucht vor der Krankheit
Es gibt nichts Schöneres als einen Ausbruch. Raus aus Berlin, ab auf die Straße gen Walachei und das in einem geklauten Lada, mitten im Sommer – dieses Abenteuer wagen zwei Jungs, die nicht viel zu verlieren haben und schließlich viel gewinnen, nicht nur Erfahrungen in Sachen Freiheit, Freundschaft und erste Liebe, sondern auch die Herzen der Leser.
„Tschick”, so heißt der Roman von Wolfgang Herrndorf, Tschick, so heißt kurz Andrej Tschichatschow, ein Russlanddeutscher aus Rostow, der im drögen Hellersdorf gelandet ist. Er verführt den 14-jährigen Maik zur Spritztour ins merkwürdige Deutschland. Auf ihrem Weg erleben sie Irrsinniges, irrsinnig Komisches, ob sie nun durch ein Weizenfeld fahren, einem Dorfpolizisten das Rad klauen oder mit Hilfe eines Schlauchs Benzin aus anderen Autos absaugen.
Nebenbei lässt sie Autor Herrndorf die Tristesse und Idylle der Landschaften erleben: unheimlich ein Geisterdorf im Osten, malerisch ein abgelegener See. Dass das nie kitschig oder moralinsauer wird, dafür sorgt Herrndorf mit einer Sprache, die nah am Jugendslang ist und doch literarisch ansprechend ist. Eine wilde Fahrt ist das, ein entfesseltes Abenteuer on the road.
Für den Autor war das Schreiben von „Tschick” ebenfalls eine Flucht nach vorne – es ist kaum zu glauben, unter welchen Bedingungen einer der witzigsten deutschen Romane der letzten Jahre entstand: Der 45-jährige Hamburger begann mit dem Schreiben, nachdem er im Februar 2010 einen Gehirntumor diagnostiziert bekam. Chemotherapie, Bestrahlungen, ein Nervenzusammenbruch, woraufhin er in die Psychiatrie musste – all das geschah während der Entstehungszeit des Buches. Unter www.wolfgang-herrndorf.de veröffentlicht der Autor seit September 2010 seine Aufzeichnungen, die den Krankheitsverlauf und die Entstehung des Romans aufzeichnen: persönliche Eindrücke, Träume, Alltägliches – ein Blog, den er bis heute weiterführt.
„Tschick” wurde nun für den Leipziger Buchpreis nominiert, momentan werden die Filmrechte verhandelt: „Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre”, schreibt Herrndorf in seinem Blog. Dass er sein Tagebuch veröffentlicht, soll keinen Voyeurismus bedienen, sondern ist ähnlich wie bei Christoph Schlingensief eine aufschlussreiche Krankheits-Dokumentation, in der auch jener Humor durchscheint, der „Tschick” zum unvergesslichen Lese-Erlebnis macht.
Wolfgang Herrndorf: „Tschick” (Rowohlt, 256 Seiten, 16.95 Euro)
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