Die Welt mit anderen Augen sehen

Fernando Meirelles adaptierte den Roman „Die Stadt der Blinden“ von José Saramago
von  Abendzeitung

Fernando Meirelles adaptierte den Roman „Die Stadt der Blinden“ von José Saramago

Für „Menschen, die sehen können, aber nichts sehen“ schrieb Literatur-Nobelpreisträger José Saramago 1995 ein Buch über das Ende der Gesellschaft: „Stadt der Blinden“. Die Verfilmung werde unsere Sicht auf die Welt verändern, verspricht der Verleih. Höher kann man die Latte für „City of God“-Regisseur Fernando Meirelles kaum legen.

Das Drama beginnt auf der Straße. Ein Mann hält den Verkehr auf. Er kann nicht weiterfahren, hat plötzlich weiße Schleier vor Augen. Ein Passant kümmert sich um ihn, um sich dann mit dem Auto des Hilflosen davon zu machen. Ein erstes moralisches Armutszeugnis für die Menschen – und es werden noch viele kommen.

Die Welt der Blinden ist gleißend hell

Der plötzlich Erblindete bleibt kein Einzelfall, immer mehr Menschen verlieren ohne Vorankündigung ihr Augenlicht. Aus ihrer Perspektive erscheint die Welt gleißend hell und leer. Fernando Meirelles setzt auf stark überbelichtete Bilder. Dem düsteren Szenario stehen also extrem helle Bilder entgegen, die den Zuschauer blenden und irritieren.

Noch ist das Ausmaß der Epidemie nicht absehbar. Die Regierung kaserniert „Erstinfizierte“ aus Sicherheitsgründen, überlässt sie der Selbstorganisation. Eine Probe für die Menschlichkeit, die in Anarchie und Verrohung endet. Eine Person muss sich jedoch den Verfall aller mit ansehen, da sie als Einzige nicht erblindet ist: Die Frau des Doktors (Julianne Moore) wollte ihren Mann (Mark Ruffalo) nicht im Stich lassen, ließ sich mit ihm einsperren. Immer darauf bedacht, nicht enttarnt zu werden, versucht sie, zu helfen.

Trotz ihrer körperlichen Überlegenheit lässt sie es zu, dass eine Männer-Gruppe die Führung im Gebäude übernimmt. Der Bartender (Gael Garcia Bernal) und sein Gehilfe, der, schon immer blind, nun gewisse Vorteile hat, stellen die neuen Regeln auf. Sie geben das beschlagnahmte Essen nur nach Gegenleistungen aus. Vergewaltigung, Erpressung und Mord gehören nun zum Alltag.

Drastische Bilder

Als der Terror überhandnimmt, beginnt die Frau des Doktors mit der Gegenwehr. Bevor es aber zu einem gegenseitigen Abschlachten kommt, entdeckt sie, dass das Gebäude schon längst nicht mehr bewacht wird. Die Welt draußen ist in einem apokalyptischen Chaos versunken und die Menschen wandeln wie Zombies durch die Straßen auf der Suche nach Essen.

Ein bisschen „Herr der Fliegen“, ein bisschen Hanekes „Wolfszeit“ – der Film zeigt in drastischen Bildern den Zerfall aller Werte im Überlebenskampf, aber auch Momente des Mitgefühls. Keine neue, aber eine immer wieder beängstigende Geschichte, wobei die namenlosen, archetypischen Figuren keine emotionale Projektionsfläche bieten.

Besonders störend erweist sich der „weise“ alte Mann (Danny Glover) als Erzähler und Sprachrohr für die philosophischen Überlegungen des Autors. Man spürt Mereilles’ Respekt vor dem lange als unverfilmbar geltenden Werk. Er hätte wie in früheren Filmen mehr den Bildern, Stimmungen und den Schauspielleistungen vertrauen sollen, vielleicht wäre aus der Vorlage dann „sein“ Film geworden.

Diemuth Schmidt

Kino: Gloria, Leopold, Neues Arena, Atlantis in OmU, im Cinema in OF, R: Fernando Meirelles B: Don McKellar K: César Charlone (Kanada, Brasilien, Japan, 120 Min.)

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