Die Thai-Überraschung
Europas Filmkunst ist out, sagen die Palmen- Trophäen des 63. Festivals Cannes
Die Goldene Palme 2010 wird untergehen – im Kino! Denn für einen Europäer ist der Film von einem Regisseur, dessen Name schon unaussprechlich ist – Apichatpong Weerasethakul – nicht mehr nachvollziehbar: „Onkel Boonmee, der seine vergangenen Leben erinnern kann" folgt keiner logischen, aufgeklärten Erzählstruktur.
Die Jury der 63. Internationalen Filmfestspiele in Cannes unter der Leitung des britischen Exzentrikers Tim Burton hat dem klassischen europäischen Erzählkino eine Absage erteilt. Man glaubt anscheinend, Europa sei ausgebrannt, die Inspiration kommt jetzt aus Asien. Aber weder vom action-brutalen Hongkong- oder Japan-Kino noch aus den Verwerfungen der Zentralmacht China. Sondern in der Rückbesinnung auf die naturhafte Schöpfungskraft der sogenannten „Primitiven".
Inspiration kommt jetzt aus Asien
Das gab es schon in der bildenden Kunst mit ihrem Blick auf Afrika oder Ozeanien. Jetzt ist im Kino Thailand vom Weltfilmfestival Cannes zur entscheidenden Inspirationsquelle mit der Goldenen Palme gekrönt worden. Es geht um Reinkarnationen in Tiergestalt und Toten-Geister, die einen Bauern auf seinen Weg in den Tod begegnen. Der Film wird im europäisch-amerikanischen Kino ein völliger Fremdkörper bleiben.
Näher, aber immer noch eine Hommage an das außereuropäische Kino ist uns da schon der zweite, der Spezial-preis der Jury. Er ging nach Afrika, in den Tschad, mit der Geschichte eines Mannes, der schuldhaft seinen Sohn an den Bürgerkrieg verliert. Mahmad-Saleh Haroun wurde ausgezeichnet für „Ein Mann, der weint".
Da wirkt es, als ob man wenigstens mit allen anderen Preisen europäisch gegensteuern wollte. So ging der Große Preis der Jury wenigstens zum Teil ins christliche Abendland, mit Xavier Beauvois' „Von Männern und Göttern". Eine Geschichte, in der christliche Humanität gegen Fundamentalismus gestellt wird. AchtMönche in Algerien, umgeben von einem toleranten Islam, geraten in die Hände von islamischen Fanatikern geraten. Oh Gott, denkt man, wo bleibt der Blick auf unsere Lebenswirklichkeit?
Kurz gesagt: erst in allen restlichen Preisen. Javier Bardém teilt sich den Darstellerpreis mit einem Italiener. Bardém wird in Inàrritus „Biutiful" in die Schatten-Lebenswelt Barcelonas entführt, die aber eher an die Dritte Welt erinnert. Und Elio Germano ist in „Unser Leben" ein Prekariats-Arbeiter mit Herz. Beide spielen eine optimistische Erinnerung an das Gute im Menschen im Wahnsinn unserer spätkapitalistischen Arbeitswelt. Juliette Binoche ist die Beste Darstellerin in „Beglaubigte Kopie" des Iraners Kiarostami. Eine Frau, die um eine erloschene Liebe kämpft. Diese Filme gehen uns ans Herz und sie werden ihr Publikum finden. Die Exotik der Hautpreise aber wird an unserer Kinowahrnehmung vorbeilaufen. Aber das Cannes-Festival versteht sich global, und da scheinen wir nur noch als ein Teil, der seine größte Zeit wohl hinter sich hat – wie die Jury meinte.
Adrian Prechtel
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