Die "Sterne des Jahres": Kulturelle Lieblinge der AZ

Die Sterne des Jahres: Unsere Besten! Im ersten relativ coronafreien Jahr 2022 war die Frage groß: Kommen die Zuschauerinnen und Zuschauer zurück?
Die Antwort darauf fällt gemischt aus, denn auf vielen Bühnen und in manchen Sälen gibt es einen merklichen Publikumsschwund. Umso erfreulicher sind da Produktionen, die zeigen, was Kunst und Kultur können: reflektieren, anregen, vielleicht auch erregen, jedenfalls begeistern – und auch Publikum anziehen. Und was optimistisch stimmt: Die Leute wollen wieder gemeinsam Kultur erleben, denn das Live-Erlebnis bleibt – gerade in zunehmend digitalen Zeiten – eben unersetzlich. Aber natürlich gab und gibt es auch für Zuhause große Kultur. Unsere „AZ-Sterne des Jahres“ sollen auch eine Anregung sein, Theater, Kino, Konzerte zu besuchen, Bücher zu kaufen und dabei zu bleiben. Es lohnt sich!
Temperamentvolle Bühne an der Schauburg
Junge Bühne: "Tiere im Hotel"
So ein Stück über Tiere kann leicht peinlich werden. Oder ganz wunderbar! Zum Beispiel wenn Marcelo Diaz an der Schauburg „Tiere im Hotel“ von Gertrud Pigor inszeniert. Wie menschlich sind diese Tiere, deren Temperamente hier in der Lobby aufeinanderprallen, wie zickig, wie empfindlich, wie aufbrausend! Allein Helene Schmitt als Kaninchen-Page: Man erkennt das Kaninchen in ihr, wenn sie vor Nervosität die Nase kräuselt oder hie und da in ein kleines Hoppeln verfällt, wenn sie in der einen Sekunde übermütig über die selbstverordnete Strenge schlägt und im nächsten ängstlich zurückzuckt. Dieses Stück ist eine großartige Farce über das sinnlose Streben nach Ordnung und Einordnung. Für Kinder. Und alle anderen.

Diözesanmuseum in Freising erstrahlt in neuem Licht
Gesamtkunstwerk: Diözesanmuseum Freising
Man hat schon geahnt, dass es irgendwie gut wird. Dann kam am letzten Wiesn-Wochenende die Eröffnung, und bereits im Foyer war klar: Das rundum erneuerte Diözesanmuseum in Freising ist ein Gesamtkunstwerk, ach was, ein Wunder. Die Idee der Architekten Brückner & Brückner, Wände zu öffnen, den Blick zu weiten, funktioniert prächtig und passt zum Ansatz auf dem Domberg: Direktor Christoph Kürzeder und sein fabelhaftes Team stellen die großen Fragen des Menschseins, weit über den Katholizismus hinaus, während man in James Turrells Lichtraum eine Vorstellung von der Unendlichkeit gewinnt.

Inszenierung: „hildensaga – ein königinnendrama“
Der österreichische Autor Ferdinand Schmalz hat die Nibelungensage neu geschrieben: „hildensaga - ein königinnendrama“ rückt die beiden „Hilden“, Kriemhild und Brünhild, ins Zentrum des Interesses. Nach der Uraufführung bei den Nibelungenfestspielen in Worms hat Christina Tscharyiski das Stück am Münchner Volkstheater inszeniert.

Und wie! Dieser Abend packt alles aus, was Theater kann: das fantastische Ensemble, die kongeniale Bühne von Sarah Sassen und die wunderbaren Kostüme von Svenja Gassen verschmelzen in Tscharyiskis Inszenierung zu einem mitreißenden Gesamtkunstwerk. Kein Element stiehlt dem anderen die Show, alles ergänzt sich aufs Feinste. Auch wenn die Geschichte bekannt ist: Man hört und sieht sie wie zum ersten Mal. Aus der männlichen Grausamkeit und der Unterwerfung der Frauen erwächst hier ganz selbstverständlich die Verschwesterung, die Befreiung der Frauen aus ihrer fremdverschuldeten Unmündigkeit. Hier zu sehen: Nina Steils als Kriemhild (l.) und Henriette Nagel als Brünhild, die sich eben nicht mehr auseinanderdividieren lassen.
Destille vom Feinsten: The Whiskey Foundation
Album: "Leisure"
Live war die Münchner Band The Whiskey Foundation schon immer ein Ereignis und lange kein Geheimtipp mehr. Ihr neues Album „Leisure“, das erste seit fünf Jahren, ist noch einmal ein großer Sprung nach vorn. Mit den beiden neuen Gitarristen Dario Krajina und Simon Singer klingt das Sextett fulminant. Der von der Band und Tobias Lechner aufgenommene Sound ist fett und dicht, die Grooves treibend, die Arrangements üppig und einfallsreich, aber das der Band anhaftende Label Bluesrock greift inzwischen ein wenig zu kurz. The Whiskey Foundation um ihren fantastischen Sänger Murat Kaydirma haben breitere Inspirationsquellen angezapft und das richtige daraus destilliert.

Kinofilm: "Corsage"
Die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer hat sich mit Schauspielerin Vicky Krieps modern der Kaiserin Elisabeth angenommen und ihren Film „Corsage“ genannt – als Symbol der Einengung einer freiheitsliebenden Frau. Das Drama ist dabei weder ideologisch-feministisch noch ein verklärender Heldinnenfilm, sondern ein spannendes Psychogramm einer komplexen Frau, auf deren Seite wir stehen. Aber Kreutzer erzeugt eine spannende Sympathieunschärfe beim Zuschauer, weil diese Elisabeth eben narzisstisch, egozentrisch, manchmal sogar grausam herrisch gezeichnet ist. Dass der Film bei aller Tragik auch Witz hat und originelle Ideen, hebt ihn zusätzlich heraus.

Es war ein Sisi-Jahr
Literatur: "Sisi"
Wenn der lakonische Humor der Hamburger Autorin Karen Duve (Foto: Kerstin Ahlrichs) auf das kapriziöse Wesen der Kaiserin Sisi trifft, dann sprüht es Funken. Jahrelang hat sich Duve durch Briefe und Biografien, Zeitungsartikel und Hofprotokolle gearbeitet, um selbst einer vermeintlich auserzählten Figur wie Sisi neue Aspekte abzugewinnen. Und wirklich: So nah wie in Duves Roman „Sisi“ (Galiani, 416 Seiten, 26 Euro) kommt man Kaiserin Elisabeth sonst selten. Die Autorin nimmt einen Lebensabschnitt von nur zwei Jahren unter die Lupe und zeichnet mit Akribie und viel Ironie ein ungemein unterhaltsames Porträt der freiheitsliebenden Rollenverweigerin und fanatischen Reiterin.

Beste Schauspielerinnen und Schauspieler
Schauspielerin: Lisa Stiegler
Sie hat eine furiose Energie, die einen beim Zuschauen regelmäßig mitreißt. Dabei ist Lisa Stiegler (Foto: Magnus Lechner), Ensemblemitglied im Residenztheater, auch eine äußerst wandelbare Schauspielerin. In Nora Schlockers Inszenierung von „Der Turm“ verkörperte sie den Königssohn Sigismund, eine Kaspar-Hauser-Figur, tierisch-kreatürlich, dabei so sanftmütig und an der Gewalt der anderen leidend, dass man trotz aller Fremdheit auf ihrer Seite ist.

Stiegler spielt diese Rolle mit fulminanter Intensität. Und zeigte in diesem Jahr zudem, dass sie selbst tolle Projekte in Gang setzen kann: „(Nicht)Mütter!“ erwies sich als wunderbar einfühlsame, erhellende Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema Mutterschaft.
Schauspieler: Vincent Redetzki
Die Party im Haus von Nora Helmer ist vorbei, aber der letzte Gast will einfach nicht nach Hause gehen: Als Doktor Rank legte Vincent Redetzki in Felicitas Bruckers Inszenierung von Ibsens „Nora“ in den Kammerspielen ein irrwitziges Solo zwischen Trotz und verzweifelter Einsamkeit hin.

Ähnlich beharrlich blieb Redetzki in unserem Gedächtnis haften, ob er nun in „Nora“ mit hintersinnigem Witz brilliert, in „Wo du mich findest“ einer Künstlichen Intelligenz mit großem Improvisationskönnen seine Stimme leiht oder in der bereits 2021 gestarteten Farce „Jeeps“ (Foto: Armin Smailovic) den penibelsten, komischsten, bedrohlichsten Bürohengst aller Zeiten spielt. Raffiniert ist Redetzkis Spiel immer, und er ist auch ein großartiger Komödiant.
Österreichischer Krimi auf der Opernbühne
Oper: "Bluthaus"
Eine junge Frau will ihr Elternhaus verkaufen. Es gibt solvente Interessenten, dann plaudern die bösartigen Nachbarn aus, dass in dem Haus ein Mord geschah und verpatzen das Geschäft. Das könnte ein österreichischer Krimi sein, doch es ist die Geschichte, die Georg Friedrich Haas (Musik) und Händl Klaus in ihrer Oper „Bluthaus“ erzählen.

Das vor zehn Jahren in Schwetzingen uraufgeführte Werk war im Mai der Höhepunkt der ersten Saison des neuen Intendanten Serge Dorny – auch wegen der kongenialen Inszenierung von Klaus Guth und dank Bo Skovhus und Vera Lotte Böcker in den Hauptrollen. Die komplizierten Intervalle der Musik von Haas fordern Hörer wie Interpreten. Aber man bleibt dran, weil der meist rhythmisch gesprochene Text in jedem Moment verständlich blieb und die Handlung in ihrer Mischung aus Grauen und Groteske den Zuschauer emotional mitriss: aktuelles Musiktheater, wie es sein sollte, aber selten genug ist.
Künstlerin Mojé Assefjah: Große Fraben und Formen
Künstlerin: Mojé Assefjah
Blau wie die Lagune, grün wie die Wiesen des Veneto, rot wie das Kleid der Madonna: Im ersten Raum der Schau „Dip in the past“ im Lenbachhaus beamten Mojé Assefjahs sinnlich-subtile Großformate das Publikum in eine andere Welt – allein durch die Farbe. Und ihre delikaten Reliefs brachten einen Hauch von Renaissance in die gotischen Räume der Landshuter Neuen Galerie.
Mojé Assefjah kam 1970 in Teheran zur Welt und lebt seit ihrer Jugend in München.

Ihre Gemälde öffnen einen imaginären Raum, in dem das innere Auge Vertrautes findet, wo nur Andeutung ist. Doch mitunter sind ihre Gedächtnis-Landschaften durchaus von Wirklichkeit geprägt: So tragen die Bilder einer Serie, die 2004 nach einer der wenigen Reisen nach Iran entstand, die Anmutung der steinigen Berge bei Teheran. Der Blick nach Draußen führt hier immer auch nach innen. Ihre gestisch-fluide Malerei in Eitempera schillert zwischen altmeisterlicher Inszenierung, der Finesse persischer Kunst und reiner Abstraktion – und ist dabei von pulsierender Gegenwärtigkeit.
Nebel im Haus der Kunst
Kunstausstellung: Fujiko Nakaya im Haus der Kunst
Und plötzlich diese Leichtigkeit! Sinnlich sanft hat Fujiko Nakaya die steinharte Realität des Hauses der Kunst unterlaufen und in ein betörendes Delirium überführt. Den Nebelspielen der 89-jährigen Japanerin konnte und wollte sich niemand entziehen. Von den allerkleinsten bis zu den ältesten Besuchern schwebten, torkelten, tanzten alle durch die mächtigen Hallen an der Prinzregentenstraße, angeregt von der Poesie des Un(be)greifbaren.

Nakayas skulpturale Nebellandschaften lassen genauso nachdenken über die Verletzlichkeit der Natur, das Ungewisse, das zum Gruseligen tendieren kann, heilende Quellen und Geysire, die Vergänglichkeit und das Werden. Dieser schwerelose Wasserdunst steckt voller Assoziationen, und so steht Fujiko Nakayas erste umfassende Retrospektive außerhalb Japans auch für den fantasievollen Neubeginn im Haus der Kunst und die programmatische Öffnung unter seinem Direktor Andrea Lissoni. Wir finden das höchst erfreulich.
Auseinandersetzung mit dem Osten wichtiger denn je
Sachbuch: "Offene Wunden Osteuropas"
Polen, Weißrussland und die Ukraine sind für viele Deutsche ein blinder Fleck auf der historischen Landkarte. Das hat eine Menge mit Verdrängung zu tun: Viele Deutsche sind Nachkommen von Tätern, ohne es genau zu wissen. Die Historikerinnen Katja Makhotina (Uni Bonn) und Franziska Davies (Uni München) haben mit ihren Studierenden die wichtigsten Erinnerungsorte des Zweiten Weltkriegs besucht. Die nüchternen Reportagen ihres Buchs „Offene Wunden Osteuropas“ (Theiss, 288 Seiten, 28 Euro) schildern Begegnungen mit Überlebenden und Historikern. Auch die eigene Familiengeschichte spielt dabei eine Rolle.

Katja Makhotina und Franziska Davies ist ein im besten Sinn populärwissenschaftliches Buch gelungen, das den Forschungsstand zu einem schwierigen Thema für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet, ohne vereinfachend zu wirken. Die Autorinnen zeigen nachdrücklich, warum es für Europas Zukunft wichtig ist, die Verbrechen der Wehrmacht und die Opfer des Krieges im Gedächtnis zu behalten – gerade jetzt, wo mit Russlands Angriff auf die Ukraine ein neuer Krieg Europa erschüttert.
Klangvolle Stimmen im Herkulessaal
Klassik: Ensemble Vodeon
Die Mezzosopranistin Hana Katsenes, der Tenor Berthold Schindler und der Dirigent Clayton Bowman bilden den Kern dieses neuen Ensembles. Ihnen gelingt es, die kunstvolle Aufführung von Vokalmusik mit der Ästhetik solistisch ausgebildeter Stimmen zu verbinden.

Das Repertoire von Vodeon reicht von Josquin Desprez bis zur Gegenwart. Ihre eigene Konzertreihe in der Himmelfahrtskirche begeisterte, in wenigen Tagen ist dieses bemerkenswert homogen und zugleich individuell singende Ensemble wieder zu hören: mit dem Programm „Das Orchester der Klaviere“ am 15. Januar um 20 Uhr im Herkulessaal der Residenz.