Die schöne Knolle

Lichtblitze, Kartoffeln und tote Tiere: Zwei Ausstellungen im Stadtmuseum bringen die Welt der Dinge und ihre Vergänglichkeit zur Geltung
von  Abendzeitung

Lichtblitze, Kartoffeln und tote Tiere: Zwei Ausstellungen im Stadtmuseum bringen die Welt der Dinge und ihre Vergänglichkeit zur Geltung

Als alles, was Kunst heißt, an Rheumatismus erkrankt war, zündete der Fotograf seine 1000-kerzige Lampe an. Die Schönheit der Dinge gehört niemandem, sondern ist von nun an ein physikalisch-chemisches Produkt“, schrieb der Dadaist Tristan Tzara 1922. Die Motive blieben, aber die technischen Möglichkeiten des damals schon nicht mehr neuen Mediums brachten sie völlig neu zur Geltung. Nicht nur Renger-Patzsch erkannte: Die Welt ist schön.

Fotografen durchleuchteten und überblendeten; ließen das Licht zeichnen wie im Fotogramm oder tauchten die Dingwelt in Farbe wie bei der Solarisation. Das Fotomuseum im Stadtmuseum präsentiert nun Stillleben in zwei Ausstellungen: „Das Leben der Dinge“ zeigt 150 Stillleben des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Sammlung Dietmar Siegerts, die kleinere Schau „Stilles Leben“ Aufnahmen aus der Sammlung des Museums von 1910 bis heute.

Die Anmut der Kartoffel

Die Nature morte war bei den Fotografen nicht zuletzt deshalb ein beliebtes Genre, weil Gläser, Vasen, Blumen, Früchte und tote Tiere im Gegensatz zu lebendigen Sujets lange Belichtungszeiten aushielten und beste Voraussetzungen fürs Experiment boten. So bannte Ludwig Belitzki 1854 „Venezianische Gläser“ in diaphaner Zerbrechlichkeit für die Ewigkeit aufs Salzpapier, August Kotzsch rückte 1870 die Schönheit der Kartoffel ins Bild. Mit der erdverbundenen Anmut der Knolle kann die handkolorierte Traubendolde Pietro Guidi desselben Jahres kaum mithalten. Nur „Les champignons de Paris“ (1939) von Wols knüpfen an derart verklärenden Naturalismus an, Herbert Lists „Eier am Strand“ (1937) führen sie fort.

Den Gemüsemarkt von Venedig hielt Pietro Salviati 1885 fest, doch da dominiert schon das Dokumentarische. Der Schleifstein an der Hausmauer, um 1865 von August Kotzsch aufgenommen, gibt nebenbei Auskunft über die Lebenswelt von damals. Und Franz Hanfstaengls Einblick in Wilhelm Kaulbachs Atelier von 1874 befriedigt sowohl die Sehnsucht des Betrachters nach Augenreiz als auch die Neugier auf die Arbeitswelt des Münchner Malers.

Mit dem Siegeszug der Werbefotografie wurde auch der Blick der Fotografen pointierter, politischer, verstörender. Etwa bei Erwin Blumenfeldt, der dem Totenschädel zwischen Frauenhänden 1932 hinterher noch ein Hakenkreuz auf der Stirn verpasste und so eindeutig Stellung bezog. Madame d’Ora nahm wiederum den Begriff „Nature morte“ wörtlich, hielt 1955 die Kamera drastisch drauf aufs Gedärm der Tierkadaver im Schlachthof.

Roberta De Righi

Bis 1. Februar, Di – So, 10 bis 18 Uhr, Katalog 29.80 Euro

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