Die Oper "Les Troyens" ohne Gardiner
Die außermusikalischen Störgeräusche dieser Aufführung waren schon spektakulär genug. Der unter Musikern als Grobian bekannte Dirigent John Eliot Gardiner wollte eigentlich seine langjährige Beschäftigung mit der Musik von Héctor Berlioz mit einer konzertanten Aufführung der Oper "Les Troyens" in Salzburg, Versailles, Berlin und London krönen. Bei der Premiere im französischen La Côte-Saint-André soll der 80-jährige Originalklangpionier den Bassisten William Thomas hinter der Bühne angerempelt und geohrfeigt haben, weil er es wagte, auf der falschen Seite des Podiums abzugehen.
Am zweiten Abend kamen der Aufführung drei Tänzer für ein Ballett nubischer Sklaven abhanden, weil sie Vorwürfe wegen kultureller Aneignung befürchteten. Daraufhin entschloss sich die Sängerin Beth Taylor zu einer spontanen Einlage. Gardiner hatte zu diesem Zeitpunkt die musikalische Leitung der Tournee bereits seinem Assistenten Dinis Sousa übertragen, einen Arzt aufgesucht und sich beim Sänger entschuldigt.
Unter Sousas Leitung gastierte die Aufführung am Samstag bei den Salzburger Festspielen im Großen Festspielhaus. Gemessen an der turbulenten Ouvertüre gab es keinen Spannungsabfall: Schon gleich zu Beginn, wenn die Bläser allein den Chor der Trojaner begleiten, die sich über das scheinbare Ende der Belagerung ihrer Stadt freuen, wurde deutlich, dass sich Außerordentliches ereignen könnte. Gardiner wurde letztendlich - wenn man von ein paar Unschärfen und etwas schwach pointierten Szenenschlüssen absieht - nicht wirklich vermisst. Sousa leitete das Orchestre Révolutionnaire et Romantique und den Monteverdi Choir offenkundig in seinem Sinn: mit flotten Tempi, betonter Farbigkeit und hoher Transparenz.
Und was ebenfalls nicht vermisst wurde, ist eine Inszenierung dieser szenisch immer etwas fröstelnden Nacherzählung der "Äneis" des Vergil. Tatsächlich findet das Drama bei dieser Oper im Orchester statt. Und es ist besser, allein die Musik zu hören und nicht zusätzlich einer Choreographie zuzuschauen, die sich damit abmüht, dem Lob des Ackerbaus und anderer zivilisatorischer Errungenschaften etwas abzugewinnen.
Wenn ein auf Originalklang spezialisiertes Orchester auf der Bühne sitzt, werden die vielen aufregenden Spezialeffekte viel deutlicher, mit denen Berlioz versuchte, ein musikalisches Kolorit der Antike zu entwerfen.
Drei Oboen imitieren altgriechische Doppelflöten, ein trojanischer Chor wird von Sistren begleitet, einer Bronzerassel aus dem Isiskult, die in dieser Aufführung nicht durch schlichte Triangel ersetzt wurden. Und in der Bühnenmusik wirkten vier historische Saxofone mit, die eher wie Tuben aussehen und mit einem eher rauen Ton für eine ganz eigene Farbe im Orchesterzwischenspiel "Königliche Jagd und Sturm" sorgten.
Gardiner hatte allerdings den (falschen) Ehrgeiz, die Oper halbszenisch aufzuführen. Der Chor agierte teilweise pantomimisch. Hektors Witwe und sein Sohn traten auf, obwohl die Klarinette so plastisch von ihrer Trauer berichtet, dass man sie eigentlich nicht sehen müsste. Andererseits ist es besser, wenn Sängerinnen und Sängern ihren Bewegungsimpulsen nachgeben, statt sie steif in Konzertkleidung herumzusitzen zu lassen. Und ein paar äußere Reize dürften Nicht-Spezialisten im Publikum bei einer fünfstündigen Aufführung durchaus willkommen sein.
Die Mezzosopranistinnen Alice Coote (Cassandre) und Paula Murrihy (Dido) sangen sehr kontrolliert, mit einer Neigung zur dramatischen Blässe. Auf weite Strecken schien es, als sei Michael Spyres mit seinem baritonal grundierten Tenor tatsächlich der beste und kraftvollste Énée seit Jon Vickers. Aber die Stimme mischte sich im Liebesduett nur mittelgut mit dem Mezzo seiner Kollegin. Und in der Arie im fünften Akt kämpfte der Sänger ziemlich mit den hohen Tönen.
Das kann passieren, aber es überraschte doch. Laurence Kilsby sang die lyrischen Soli von Iopas und Hylas mit Geschmack, Beth Taylor (Anna) überraschte mit einer androgynen Alt-Stimme und gurrenden Registerbrüchen. Es juckte ihr zwar in den Füßen, aber sie verzichtete auf eine Wiederholung der Tanzeinlage. Lionel Lhote konnte nicht deutlich machen, was in der Rolle des Chorèbe steckt. Die Chargen und hilfreichen Geister einschließlich des geohrfeigten William Thomas waren höchst solide.
Der Monteverdi Choir prunkte mit einem sehr schlanken und frischen Klang: der perfekten Ergänzung zum hellen trockenen Obertonreichtum des Orchestre Révolutionnaire et Romantique mit seinem dramaturgisch exakt zwischen Wärme und geräuschhaftem Schnarren wechselnden Blech. Diese beiden phänomenalen Ensembles haben keine feste Struktur, sie beziehen ihre Kraft aus der projektbezogenen Arbeit.
Vor allem der Chor ist stark auf seinen Gründer und langjährigen Leiter John Eliot Gardiner eingeschworen. Es kann eine Chance sein, dass die Krise noch zu Lebzeiten des Übervaters eingetreten ist. Denn eines ist nach dieser Aufführung klar: Das Potenzial für Entdeckungen bei Musik des 19. Jahrhunderts im sogenannten Originalklang ist noch längst nicht ausgeschöpft.
Der junge portugiesische Dirigent konnte umständehalber nur Nervenstärke, aber kaum eigenes Profil zeigen. Dinis Souza leitet derzeit ein britisches Kammerorchester und ein Originalklangensemble. Seine Chance hat er jedenfalls genutzt, was in ihm steckt, wird die Zukunft zeigen.
Die Aufführung gastiert noch in Versailles (29. August), Berlin (1. September) und London (3. September). Gardiner dirigiert nach jetzigem Stand am 8., 9. und 10. Februar 2024 das BR-Symphonieorchester in der Isarphilharmonie. Auf dem Programm: Werke von Franz Schubert und W. A. Mozart