Die Krankheit Egoismus

Audio von Carbonatix
Heute Premiere in den Kammerspielen: Christoph Frick inszeniert Albert Camus’ Drama „Der Belagerungszustand“
In Cadíz sind Menschen an der Pest gestorben, die korrupten Behörden sind hilflos. In der Gestalt eines Offiziers reißt die Pest mit Hilfe einer Sekretärin, die der Tod ist, die Macht an sich und errichtet ein totalitäres Regime. 1948 schrieb der Franzose Albert Camus sein allegorisches Drama „Der Belagerungszustand“, in dem er nach der Freiheit und Verantwortung des Einzelnen fragt. Christoph Frick aus Basel inszeniert es an den Kammerspielen und gibt damit sein Münchner Regie-Debüt. Heute ist Premiere.
AZ: Herr Frick, was reizt Sie an diesem heute selten gespielten Stück?
CHRISTOPH FRICK: Unter den Vorschlägen der Kammerspiele-Dramaturgen interessierte es mich aus formalen und inhaltlichen Gründen. Formal, weil es so vorsätzlich heterogen geschrieben ist, es ist Ideendrama, psychologisches Drama, Anlehnung an mittelalterliches Mysterienspiel. Dass eine Gesellschaft ihr Problem verdrängt, nicht artikuliert und nicht angeht, das kann man nicht allein über die Psychologie erarbeiten, sondern man muss über Theatervorgänge nachdenken. Inhaltlich sind die Fragen, die verhandelt werden, entscheidend.
Steht die Pest als Metapher für den Faschismus?
Daran denkt man heute schnell. Aber ich glaube, Camus sah die Pest eher als gesellschaftliche Krankheit. Die Gesellschaft trägt die Pest in sich und ist dadurch anfällig, weil sie angstgesteuert ist. Die Gesellschaft betrügt sich und andere, sie hat Angst vor Status- und Liebesverlust. Sie geht davon aus, dass sie fällig ist für eine verdiente Strafe, weil sie den Bogen überspannt hat. Dieses diffuse Unwohlsein verdeutlicht sich in der Pest. Ihr Auftreten macht das Verhalten der Leute klarer. Sie ist nicht Hitler oder Stalin, sondern eine gesellschaftliche Projektion, eine psychotische Ausgeburt. Ähnliche Vorgänge haben wir erlebt, als Aids ausgebrochen ist, oder nach 9/11 die Terrorismus-Hysterie. Da wurden in kürzester Zeit Gesetze erlassen, die gar nicht notwendig sind. In dem Sinne ist das System, das Camus beschrieben hat, übertragbar. Die Pest macht gar nicht viel, die Leute machen alles selber.
Sie lassen sich aus Angst vor dem Tod unterjochen.
Es gibt im Stück die Sekretärin, die über Leben und Tod entscheidet, also haben die Leute tatsächlich Todesangst. Heute versuchen wir, den Tod aus unserem Leben und der Gesellschaft zu verdrängen, Da ist das Stück sehr modern. Wir haben zum Sterbeprozess ein gestörtes Verhältnis. Alter ist mit Sterben verbunden, und wir können uns nicht dazu verhalten.
Nur der junge Arzt Diego widersetzt sich der Pest. Er fordert Solidarität und Widerstand und opfert sich selbst.
Diego macht eine Entwicklung durch. Als er sich nicht mehr erpressen lässt, Angst vor dem Tod zu haben, findet er eine Sprache, die Missstände zu beschreiben. Diego als Stellvertreter Camus’ versucht, Gesellschaft und Liebe zu vereinen. Die Aussage des Stückes ist nicht nur politisch, sie führt aufs Individuum zurück. Die Frage nach der Virus-Ansteckung ist die nach dem Egoismus, die Frage, ob solidarisches Handeln möglich ist oder nicht. Das ist der Spaltpilz, den die Gesellschaft in sich trägt.
Sie kommen aus der freien Szene. Ihre 1991 gegründete Gruppe KLARA gehört zu den renommiertesten Schweizer Formationen und gastiert viel im Ausland.
Ich habe jetzt mit KLARA eine längere Pause gemacht, weil mein Kalender zu voll war. Es gibt einen festen Kern in Basel, aber wir produzieren nicht mehr so regelmäßig.
Mit KLARA haben Sie alle Stücke selbst erarbeitet. Das ist eine ganz andere Arbeitsweise als an den Stadttheatern, an denen Sie seit einigen Jahren verstärkt inszenieren.
Durch die Arbeit mit KLARA kamen nach und nach Regie-Anfragen von festen Häusern. Die Initialzündung hatte ich durch „Wilhelm Tell“, da habe ich gemerkt, dass mich komplizierte Klassiker interessieren. Jetzt kann ich die Sprachen und Methoden beider Richtungen vermischen. So habe ich in Freiburg eine „Bettleroper“ mit Hartz-IV-Empfängern inszeniert. Die Stilmittel beider Welten zusammenzufügen, interessiert mich brennend.
Gabriella Lorenz
Kammerspiele, heute, 20 Uhr, Karten Tel.23396600
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