Die Kathedrale des Bösen
BERLIN - In der Bibel ist sie „die Mutter des Unzüchtigen und der Gräuel der Erde“. Bis heute ist die antike Weltstadt Babylon das Symbol für das Laster, Sittenverfall und selbstverschuldeten Untergang. Das Berliner Pergamon-Museum zeigt eine Schau über das antike New York.
„In Umfragen meinen 19 von 20 Befragten heute immer noch, Babylon ist gescheitert. Wir wissen es besser“, sagt Joachim Marzahn. Er ist einer der Ausstellungsmacher von „Babylon. Mythos und Wahrheit“ , die bis 5. Oktober im Pergamon-Museum zu sehen ist. Dort befinden sich die vom Archäologen Robert Koldewey ausgegrabenen Reste des Ischtartors und der Prozessionsstraße, in denen die Babylonier ihr Neujahrsfest mit Götterprozessionen feierten.
In der etwa 90 Kilometer südlich von Bagdad gelegenen einstigen Hauptstadt der Könige Hammurabi und Nebukadnezar zeugen heute nur wenige Ruinen und eine Reihe rekonstruierter Bauwerke von der Bedeutung der Hochkulturen im Zweistromland an Euphrat und Tigris. Zwischen 2500 vor Jesus Christus bis 500 nach Jesus Christus entstand hier eine Hochkultur, die prägend war für die weitere Geschichte der Zivilisation. Mehr als eineinhalb Jahrtausende lang war Babili – was „Pforte Gottes“ bedeutet – bis zur Zeit des 322 vor Chr. gestorbenen mazedonischen Eroberers Alexanders Mittelpunkt von Kultur und Verwaltung.
Einzigartige Blüte in der Wissenschaft
Der archäologische Teil der Ausstellung illustriert mit über 800 Objekten – unter anderem Statuen, Reliefs, Weihgaben, Schmuck, Juwelen, Architekturteile und Schriftzeugnisse – die „Wahrheit“ über die Stadt. Zu erfahren ist, dass Recht und Ordnung bereits zum Staatsprogramm zählten und schriftlich mit Keilschrift auf Stelen fixiert wurden.
Die Wissenschaft erzielte in Babylon eine einzigartige Blüte. Grundlage war die Erfindung der Schrift. Lehmziegel wurden der Baustoff schlechthin – aus ihm wurden Paläste und der sagenumwobene Turm errichtet, ein quadratisch und stufenförmig angelegter Tempel, der schon in der Antike verschwand: Alexander der Große ließ ihn abtragen, um einen neuen zu errichten – und starb darüber 323 v. Chr. in der Stadt.
Allgegenwärtige Legenden
Um Babylon ranken sich auch allgegenwärtige Legenden. Sie werden im zweiten Teil der Schau hinterfragt. So will der Mythos, dass Babylon eine Metropole der Lüste war. Allerdings: Damals hätten für unmoralische Handlungen im sexuellen Umfeld überhaupt keine Begriffe existiert. Das beherrschende Zerrbild vom Sündenpfuhl geht auf den spätantiken Kirchenvater Augustinus zurück und wurde von Martin Luther aufgegriffen. In seiner Schrift „De Captivitate Babylonica“ setzte er Rom als Zentrum der ihm verhassten katholischen Welt mit der sogenannten babylonischen Hure gleich.
Auch für die Apokalypse ist kein historischer Beleg bekannt. Dabei gilt die gewaltsame Zerstörung Babylons als symbolträchtiges Szenario eines selbst verschuldeten Untergangs. In Wahrheit verlor die Stadt nach der Eroberung durch den Perser Kyros II. 539 vor Chr. ihre einstige Größe.
Die babylonische Sprachverwirrung ist nach biblischer Überlieferung die Strafe Gottes für das größenwahnsinnige Turmprojekt. In der Ausstellung ist zu erfahren, dass im multikulturellen Babylon Menschen verschiedenster Nationen lebten – Ägypter, Perser, Griechen und Juden. Daher seien auf den Straßen die unterschiedlichsten Sprachen zu vernehmen gewesen.
Das Thema Sprachverwirrung darf in der Ausstellung auch Helge Schneider mit seinem Kunstobjekt zur „Akopalüze nau“ vertreten. Was die Apokalypse angeht, heißt es auf einem Filmplakat von 1919 vieldeutig: „Der Untergang von Babylon – Verleih für ganz Deutschland“. Und was den Turmbau zu Babel als „Kathedrale des Bösen“ betrifft, werden Legendenbilder auch der modernen Popkultur angeführt wie Saurons Turm in der Verfilmung von Tolkiens „Herr der Ringe“.
Wilfried Mommert