Die hohe Kunst des Nichtsnutzens

„Tag der geschlossenen Tür” – Rocko Schamonis zweiter Roman über Michael Sonntag
Christian Jooß |
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In Hartmann von Aues mittelhochdeutschem Aventure-Roman „Erec” gibt es einen Moment, da überlässt der Held die Entscheidung über sein weiteres Schicksal seinem Pferd und reitet dahin, wo der Weg ihn führt. Gleich zu Anfang von Rocko Schamonis Roman „Tag der geschlossenen Tür” versucht Michael Sonntag ähnliches auf einem Platz in Hamburg. Er folgt einer Plastiktüte, die der Wind treibt. An ein Ziel kommt er nicht. Und dann verschluckt ein Fahrzeug der Stadtreinigung die Tüte. Sonntag erinnert sich an die Worte seiner Mutter: „Junge, was nützt das?” und gibt sich selbst die Antwort: „Mutter, von deinem Kind soll nie wieder ein Nutzen ausgehen.”

Rocko Schamoni ist dagegen eine umtriebige Gestalt nicht nur der Hamburger Szene, war aktiv als Chanson-Disko-Punk, ist Mitglied der grenzgängerischen Humoristentruppe Studio Braun, Gründungsmitglied des Hamburger Pudel Club, war 2005 wahlkampfaktiv als Spitzekandidat für Die Partei. „Tag der geschlossenen Tür” ist sein mittlerweile vierter Roman. Die Fortsetzung von „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit”, der schon einmal um Michael Sonntag kreiste.

Soweit Schamonis Aktionsradius. Aber wer sein autobiografisches „Dorfpunks” kennt, ahnt, dass Rocko ein intensiver Kenner der Materie des Nichtstuns ist. Sein Michael Sonntag ist ein Mittdreißiger. Dessen einziger offizieller Produktionsauftrag das Verfassen einer Kolumne für eine Stadtzeitschrift ist. Man kann sich über die ersten Seiten dieses Buches fragen, ob ein Protagonist, der versucht, an einem bürgerlichen Leben nicht teilzunehmen, nicht zu wenig anzubieten hat für einem ganzen Roman. Schon diese Frage aber baut auf den gängigen Regeln auf, die für unsere Lebensführung zu herrschen scheinen.

Michael Sonntag ist Radikalhumorist und unterläuft basisanarchistisch die kapitalistische Gesellschaft. Als Hütchenspieler ohne Tricks lässt er sich Geld abnehmen, verkleidet als Museumswärter versieht er einen unbezahlten Job und kündigt eine Arbeit, die er nie hatte, als Erfinder von unmöglich zu druckenden Roman-Plots, die Titel tragen wie „Email für Emil” und „Europa mon Amour” sammelt er die Ablehnungsschreiben von Verlagen. Seine Freundin: eine tote Stubenfliege.

Michael Sonntags Leben ist eine clowneske Performance, die den anderen Blick sucht, weil er sich unwohl fühlt mit der gewohnten Perspektive. Sein zeitweiliger Wohnungspartner Bob formuliert die poetische Erkenntnis für unser absurdes modernes Leben: „In dem Spalt zwischen Macht und Geld herrscht immer ein großer Sog.” Es sind solche Sätze, mit denen Schamoni über die Beschreibung eines Menschen hinausschießt, der sein Leben verpassen will.

Aber wo der Held des Entwicklungsromanes einen Weg der Selbsterkenntnis beschreitet, produziert Michael Sonntag Unsinn als Gegenmaßnahme. Solange Unsinn, bis der ihm, ohne dass er danach strebt, einen neuen Sinn schenkt. Ein Reifestadium, das muss Michael Sonntag da gar nicht mehr erleben. Es reicht die tröstliche Erkenntnis: Man kann nicht nichts erleben.

Rocko Schamoni: „Tag der geschlossenen Tür” (Piper, 262 Seiten, 16.95 Euro).

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