Die höllische Lust am Albtraum
Schostakowitschs Sinfonien 6 und 10, 9 und 7 unter Valery Gergiev in der Philharmonie
Petersburg ist weit, Moskau sowieso. Aber dass bei einem Protestmarsch gegen Wladimir Putins Vereidigung eben mal 400 Demonstranten festgenommen wurden, gibt dem Münchner Schostakowitsch-Zyklus einen sonderbaren Beigeschmack.
Würde sich der Komponist auf die Seite seines derzeit vielleicht interessantesten Interpreten Valery Gergiev stellen? Der unterlässt bekanntlich keine Gelegenheit zu betonen, dass ohne Putin das Chaos ausbrechen, die Korruption eskalieren würde. Ganz nebenbei ist der neue alte Retter des Vaterlandes dabei, einen gewissen Josef Stalin wieder hoffähig zu machen.
Wie das zusammengeht? Wir werden es nie erfahren, geschweige denn verstehen. Aber wenn man Dmitri Schostakowitschs Sinfonien in erster Linie als große, fulminante Kunst zelebriert – und das gelingt Gergiev auf geradezu betörende Weise –, dann fügt sich so manches in den unendlichen Weiten einer aufs Absolute hinzielenden Deutung. Doch bei aller Qualität fehlt dieser Musik schließlich etwas Fundamentales, der Stalin-Terror ist für Schostakowitsch Lebensdrama, persönliche Pein und Impetus zugleich.
Tatsächlich beißt und bohrt es ja. Im Allegro der Zehnten, die den ersten Abend beschließt, peitschen schrill dissonante Holzbläserfiguren ins Ohr. Der Wahnsinn (des Mussorgsky-Boris) wird greifbar. Aber besser bleiben die aberwitzigen Tempi des wilden Zirkustaumels der Sechsten haften wie überhaupt das bis ins Absurde Überdrehte: Aus den raffinierten Übersteigerungen des Mariinski-Orchesters glüht eine teuflisch attraktive Fratze, die noch in der Verzweiflung verführt. Der marschierende Albtraum im Kopfsatz der „Leningrader“ ist nicht zu überbieten und mit all seinem Schrecken eine Lust zu hören. So, wie selbst die beklemmende Grau-in-Grau-Melancholie im Largo der Neunten.
Minutenlange Ovationen dann am Ende von zwei grandiosen Abenden. Und ein paar offene Fragen.
Am 18. und 19.7. sind die Münchner Philharmoniker unter Gergiev mit den Sinfonien 11 und 15 zu erleben; Tel.480 98-55 00