Die Götter müssen verrückt sein
Wo sich Anstand und Moral in der Hitze populistischer Reden auflösen: Das „Radikal jung“-Festival bleibt weiterhin nah am Puls der Zeit.
Sophokles schmilzt und Wasser spritzt. Aufgetaute Klassiker und eine Jugend unter Druck konnte man in den letzten zwei Tagen bei „Radikal jung“ erleben, dem Festival junger Regisseure im Volkstheater. Viel mehr als eine Stunde braucht die in Israel geborene Regisseurin Yael Ronen nicht, um „Antigone“ in ein Stück aktuelles, politisch aufgeladenes Theater zu verwandeln: König Kreon (Philipp Lux) ist bei ihr ein glatt gegegelter Machtpolitiker, der dem Selbstmordattentäter Polyneikes, immerhin der Bruder von Kreons Schwiegertochter Antigone, kein anständiges Begräbnis gewähren will.
Bei Sophokles waren es die Götter, bei Ronen sind es die Medien, die zur Härte drängen, und während Gewissheiten über Anstand und Moral sich in der Hitze populistischer Reden auflösen, so schmelzen auch die Eisbüsten von Sophokles und Sappho am Bühnenrand. Heutige Konflikten versuchen die Regisseure klar hervorzuarbeiten, Seraina Maria Sievi gelingt das mit dem Jugendstück „The Kids are alrigt“: Auf einem Spielplatz schaukeln die Jugendlichen zwischen Hip- Hop, Spiel und Schlägerei vor sich hin, bis Phillip (Bijan Zamani) wie in einem Mafiafilm sich zwischen neuem anständigen Leben und Loyalität zu den Kumpels entscheiden muss.
Aus jeder Flasche spritzt die Flüssigkeit, ein unkontrollierbarer Mechanismus arbeitet hier, und wie in der Internet-Posse „Second Life“ sinnieren die Kids darüber, ob ihre Entscheidungen frei oder Produkt chemischer Prozesse sind. In dieser unwägbaren Zone bewegen sich auch die Regisseure, wobei sie das Kind bislang ganz schön schaukeln.
Michael Stadler
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