„Die Geschichte der getrennten Wege“ - die AZ-Kritik

Frauen mit eigenem Kopf: „Die Geschichte der getrennten Wege“,der dritte Band von Elena Ferrantes Neapel-Saga
von  Roberta De Righi

Frauen mit eigenem Kopf: „Die Geschichte der getrennten Wege“,der dritte Band von Elena Ferrantes Neapel-Saga

"Jeder erzählt sich das Leben so, wie es ihm gefällt.“ Schonungslos kommentiert Lila, die als „Meine geniale Freundin“ seit dem Erscheinen des gleichnamigen Buches den internationalen Literaturbetrieb fasziniert, den Versuch ihrer besten Freundin, sich die Geburt ihres ersten Kindes schön zu reden. Womit die Gretchenfrage zu Dichtung und Wahrheit auch gleich beantwortet wäre.

Diese Freundin seit Kindertagen ist Lenù, Ich-Erzählerin der neapolitanischen Saga, die jene Autorin (oder, weniger wahrscheinlich, der Autor) mit dem Pseudonym Elena Ferrante verfasste – und die seit der späten deutschen Erstausgabe vor einem Jahr auch hierzulande zum Bestseller wurde. Der Versuch eines Journalisten, ihre Identität zu enthüllen, verursachte einigen Wirbel, blieb aber letztlich erfolglos. Nach „Meine geniale Freundin“ und „Die Geschichte eines neuen Namens“ erscheint jetzt „Die Geschichte der getrennten Wege“, der dritte Band der Tetralogie um Elena Greco (Lenù) und Raffaella Cerullo (Lila oder Lina). Wie unter dem Brennglas entfalten sich Ferrantes Figuren, die Bewohner des Rione, eines Arme-Leute-Viertel am Rande Neapels, zum Gesellschaftspanorama ihrer Zeit. Dabei beschreibt die Autorin nicht nur Italiens Nachkriegsgeschichte aus weiblicher Sicht, sondern inszeniert auch ein vielschichtiges Vexierspiel weiblicher Identitäten.

Die unruhigen Siebziger

Lila/Lina ist es, an der sich Lenù abarbeitet, und deren Verschwinden im ersten Band Auftakt für die Niederschrift der Ereignisse ist. Voller Bewunderung, aber auch mit Neid auf die hochbegabte, widerspenstige, schöne Schustertochter, deren zwei Kurznamen ihre Doppelnatur widerspiegeln: Sie ist mal selbstlose Rebellin, schmerzhaft authentisch und impulsiv, mal eiskalt und berechnend. Eine schillernde Frau zwischen Heiliger und Hexe.

Der dritte Band mit dem etwas sperrigen deutschen Titel schildert die auseinander driftenden Leben der beiden Frauen in der Alters-Dekade zwischen 20 und 30. Während sich Lila mit unehelichem Kind, ohne dessen Vater mit einem Knochenjob in der Wurstfabrik durchschlägt und dort mehr aus Versehen denn aus Überzeugung zur Vorkämpferin der Arbeiterrechte wird, hat Lenù den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft, ihr erstes Buch geschrieben und heiratet in eine angesehene norditalienische Linksintellektuellenfamilie ein.

Es sind die unruhigen Siebziger Jahre, als Italien eine Spirale der Eskalation erlebte. Die Mafia hatte ihre Tentakel überall, die Faschisten griffen sich nach wie vor mit Gewalt das Recht des Stärkeren und die Roten Brigaden setzten den Klassenkampf als Terror fort.

Die Machtverhältnisse bleiben unverändert

Die Schicksalsspirale dreht sich: Die im Kern unsichere Lenù kommt sich selbst zwischen der Uni-Karriere ihres Mannes, Haushaltspflichten, zweitem Kind und den Wertevorstellungen ihrer neuen Familie abhanden. Ihr zweites Buch wird lange nichts. Die zarte, zähe Lila hingegen schafft es immer noch, den Männern die Köpfe zu verdrehen und steigt bald wie ein Phönix aus der Asche. Es ist die Geschichte einer doppelten Emanzipation, allerdings nicht als Heldinnen-Epos inszeniert, sondern als Überlebenskampf zweier Frauen, deren größtes Vergehen in einer noch von archaischen Geschlechterrollen und brutalem Machismo geprägten Gesellschaft darin liegt, ihren eigenwilligen Kopf nicht ausschalten zu können. Hinter einigen handelnden Personen meint man die Maxime aus Tomasi di Lampedusas „Leopard“ zu erkennen: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, muss alles sich alles ändern.“

Die Machtverhältnisse im Rione ändern sich jedenfalls nicht wirklich. Die einzige, die den skrupellosen und mit der Camorra verbandelten Solara-Brüdern, denen der halbe Rione und einige prosperierende Geschäfte Neapels gehören, die Stirn bietet, ist Lila. Einer der beiden Brüder ist es auch, der sie wegen ihrer Intelligenz vergöttert. Es gibt bei Elena Ferrante keinen Charakter, keine Begebenheit, die eindimensional bleibt. Und ausgerechnet Lila lässt sich scheinbar von ihm kaufen.

Auch wenn die Selbstzweifel der Ich-Erzählerin und ihre Hassliebe für die geniale Freundin bisweilen überstrapaziert werden, reißt der Sog auch in „Die Geschichte der getrennten Wege“ nicht ab. Wie sie den naiven Aktivismus salonkommunistischer Studenten entlarvt, der auf Bevormundung beruht und den Fabrikarbeitern zunächst mehr schadet als nützt. Wie sie auch bei den vermeintlich aufgeklärten Linken vorhandene Geschlechter-Stereotypen freilegt. Wie sie vorsichtig, aber konsequent weibliche Sexualität interpretiert. Wie der analytische Blick sie nicht daran hindert, zugleich eine süffige Story voller Leidenschaft zu servieren. Man kann gar nicht anders, als ungeduldig auf den vierten und letzten Band zu warten, der im Februar 2018 erscheint.

Elena Ferrante: „Die Geschichte der getrennten Wege“ (Suhrkamp, 541 Seiten, 24 Euro)

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