„Die Bilder gehören in die Öffentlichkeit“

Darf man nackte Contergan-Geschädigte zeigen? Ja, sagt Regisseur Niko von Glasow. Am Mittwoch stellt er seine Bilder am Stachus aus. Glasow über sein mutigstes Projekt, seine Protagonisten und den Umgang mit der eigenen Behinderung.
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Darf man nackte Contergan-Geschädigte zeigen? Ja, sagt Regisseur Niko von Glasow. Am Mittwoch stellt er seine Bilder am Stachus aus. Glasow über sein mutigstes Projekt, seine Protagonisten und den Umgang mit der eigenen Behinderung.

Die Idee ist verrückt und ohne Anspruch auf politische Korrektheit: Niko von Glasow, Filmemacher und Conterganopfer, hat sich selbst und elf ebenfalls contergangeschädigte Nicht-Fotomodelle überzeugt, sich nackt auszuziehen und für die Kamera zu posieren, damit die, die sonst verstohlene Blicke auf die „Contis" oder andere Körperbehinderte werfen, mal in Ruhe hinschauen können. Herausgekommen ist der wundervoll lebensmutige Dokumentarfilm „NoBody’s Perfect", (Kinostart: 11. September), in dem von Glasow die elf Menschen portraitiert. Darunter sind die irische Bürgermeisterin und Sängerin Kim Morton, die in ihrem Land mit einem Hungerstreik höhere Entschädigungen erreichte, Bianca Vogel, deutsche Dressurreiterin ohne Arme, der britische BBC-Moderator Fred Dove und der Astrophysiker Stefan Fricke.

Begleitend gibt es einen Bildband und eine Ausstellung. Am Mittwoch ist die unter der Schirmherrschaft von OB Christian Ude stehende Ausstellung mit den zwei Meter hohen Fotos zwischen Stachusbrunnen und Karlstor zu sehen. Von Glasow wartet auf spannende Gespräche. Die Film-Preview findet um 20 Uhr im Atelier statt.

AZ: Herr von Glasow, wie läuft die Ausstellung auf der Straße ab?

NIKO VON GLASOW: Ich setze mich auf einen Regiestuhl und warte ab, was passiert, wie die Menschen reagieren. Wer Lust hat, kann sich auf die anderen Regiestühle setzen und mit mir reden. Aber ich werde nicht herummissionieren. Die Bilder gehören in die Öffentlichkeit und Normalität. Das Wichtigste ist, dass Bilder und Film Lebenslust ausstrahlen und dem Betrachter Freude bringen.

Zwingen Sie die Weggucker zum Hingucken?

Durch diese Aktion übernehmen wir die Kontrolle. Wir inszenieren das Angucken und gehen in den Angriff. Normalerweise werde ich angeguckt, jetzt müssen die Menschen mit ihrer Unsicherheit uns gegenüber umgehen.

Sind Ihre Protagonisten mutig oder übermütig?

Mutig, weil sie sich ihrer eigenen Befindlichkeit stellen. Der erste Schritt raus aus der Verdrängung ist ein Schritt in die eigene größte Angst. Ein Befreiungsschlag. Alle elf sind faszinierende Persönlichkeiten, jeder hat auf seine Weise die Behinderung kompensiert. Ich habe immer meine Behinderung verdrängt, fühlte mich als Regisseur, Vater oder Deutscher, aber auf keinen Fall behindert. Die Arbeiten am Film waren Therapie. Ich bin fröhlicher geworden.

Wie konnten Sie Ihre Models überzeugen?

Ich habe mich morgens hingesetzt und innerhalb von fünf Stunden hatte ich die Leute beisammen. Die verstanden sofort, dass es nicht darum geht, Nacktheit darzustellen, sondern einen Sachverhalt mit politischem Sinn – und dass ich schöne Fotos machen wollte. Während der Dreharbeiten waren manche schon sehr unsicher, wenn es in die Garderobe ging. Aber das Schwierigste war die Auseinandersetzung zwischen uns. Conterganleute sind ein verstreutes Völkchen aber keine Gemeinschaft. Ich habe versucht, dass wir eine Gemeinschaft werden, besonders auch im Konflikt mit der Firma Grünenthal, die Contergan auf den Markt brachte. Weltweit waren 10 000 Säuglinge davon betroffen. In Deutschland überlebten 2800 Contergan-Babys.

Eines Ihrer Models, Kim Morton aus Belfast, organisierte einen Hungerstreik. Die britischen Contergan-Opfer bekommen eine Entschädigung, die bis zu viermal so hoch ist wie die ihrer deutschen Leidensgenossen. Welche Möglichkeiten gibt es, Grünenthal zum Zahlen zu zwingen?

Es gibt die Möglichkeit, durch unsere Arbeit Öffentlichkeit zu erreichen, vielleicht auch eine Art von Schuldbekenntnis oder Entschuldigung, die von Herzen kommt. Und dann gibt es die Möglichkeit des Hungerstreiks, der bestimmt auch bald kommt. Bei vielen herrscht eine wahnsinnige Wut, ich finde diese Wut allerdings sehr ungesund und kontraproduktiv.

Und das Angebot der Firmengruppe Wirtz über 50 Millionen Euro?

Eine scheinheilige Augenwischerei nach dem Ärger um Adolf Winkelmanns Film „Contergan – Eine einzige Tablette". Wenn man die Summe auf die deutschen Opfer verteilt, die vielleicht noch 20 bis 30 Jahre zu leben haben, liegt die bei 1.50 Euro Entschädigung pro Tag. Toll, dafür kann ich mir dann täglich ein Eis kaufen.

Margret Köhler

„NoBody’s Perfect": Preview im Kino Atelier, am 4.9., 20 Uhr. Foto-Ausstellung und Gespräch mit dem Filmemacher am 4.9. von 10 bis 18 Uhr am Stachus und Karlstor

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