Die Bestie in uns allen

Der Anwalt und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach fesselt die Leser mit seinem zweiten Erzählband „Schuld“
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Der Anwalt und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach fesselt die Leser mit seinem zweiten Erzählband „Schuld“

Ein Mann gerät wegen einer Buchstabenverwechslung in seinem Nachnamen in die Mühlen der Justiz und sitzt drei Monate unschuldig in Haft. Eine ganze Blaskapelle vergewaltigt während eines Dorffestes eine Siebzehnjährige und kann wegen mangelnder Spuren nicht überführt werden. Dass Recht und Gerechtigkeit oft zwei ganz verschiedene Dinge sind, kennt der Berliner Anwalt und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach aus seiner täglichen Berufspraxis.

Im letzten Jahr debütierte er mit seiner Erzählsammlung „Verbrechen“ und landete einen Bestseller: eine Viertelmillion verkaufter Exemplare, Übersetzungen in 30 Länder, und die Münchner Constantin sicherte sich die Verfilmungsrechte.

Dass der Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach von den hohen literarischen Weihen und Preisen im Lande verschont blieb, kann er verschmerzen. Dahinter steckt wohl das Missverständnis, von Schirachs Geschichten seien „nur“ der Wirklichkeit entrissen. Weit gefehlt. Der Autor beansprucht keineswegs Authentizität, er spricht lieber von literarischer Wahrheit und Versatzstücken aus seinem Erfahrungsschatz.

Auch in „Schuld“ geht von Schirach dem Wesen der menschlichen Natur auf den Grund, besser gesagt: den Abgründen. Seine Geschichten spielen häufiger im Mittelstand als im Milieu – auch wenn er als längste Geschichte einen perfekten Tarantino-Krimi in dieses Buch packt. Mit Lust an lakonischer Schilderung führt von Schirach seine Fälle häufig vom Alltag in den Albtraum: „Zwei Jahre später hatten sie geheiratet, acht Jahre war das her. Die Dinge hätten gut gehen können.“ Aber sie tun es nicht in diesen fünfzehn Geschichten: Ein Mann schlägt seine Frau systematisch und demütigt sie, ein anderer kann es nicht mehr ertragen, dass er seine Frau mit anderen teilt, auch wenn er dies anfangs so wollte.

Präzise treibt der Autor die Fälle auf den Punkt zu, an dem die Situation kippt. Die Motive interessieren den Autor von Schirach dabei weit mehr als den Anwalt.

Wie er es auf kaum mehr als zehn Seiten schafft, ganze Lebensläufe plastisch auszumalen, ist nicht nur extrem spannend, sondern große erzählerische Kunst. Mit kurzzeitigen Folgeschäden für den Leser: Wer nach der Lektüre plötzlich die Gewaltfantasien jedes Menschen an der Trambahnhaltestelle zu erkennen glaubt, ist kein Sadist. Er ist nur dem Sog dieses außergewöhnlichen Autors erlegen.

Volker Isfort

Ferdinand von Schirach: „Schuld“ (Piper, 200 Seiten, 17.95 Euro)

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