Der Witz liegt im Protest

Kein alarmistischer Film über Bürger auf Barrikaden, sondern eine amüsant-ernste Dokumentation: „Alarm am Hauptbahnhof – Auf den Straßen von Stuttgart 21”
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Was war los im braven Schwaben? Die Bilder von der Räumung des Stuttgarter Schlossgartens gingen um die Welt: Parkschützer hatten für den 30. September 2010 zur Blockade der Baumfällarbeiten aufgerufen. Demonstranten wurden mit Wasserwerfern beschossen, einer verlor sein Augenlicht, und mittendrin standen Wiltrud Baier und Sigrun Köhler.

Die Filmemacherinnen fingen hier die Bilder ein, mit denen ihre Doku „Alarm am Hauptbahnhof – Auf den Straßen von Stuttgart 21” beginnt: eine persönliche Chronik bis zur Landtagswahl dieses Jahres. Mit einem Augenzwinkern nimmt der Film die neue Diskussionskultur im Ländle unter die Lupe.

„Wenn ich nicht als Filmemacherin im Stuttgarter Schlossgarten gewesen wäre, sondern als Demonstrantin, dann wäre ich zur ,Wutbürgerin’ geworden und marodierend durch die Straße gezogen”, sagt Wiltrud Baier. Wutbürger? Auf die Stuttgarter, die dort friedlich ihren Bahnhof wie eine Trutzburg verteidigten, will der Begriff nicht so recht passen. Aber: „An diesem Tag verlor der Protest der Schwaben seine ursprüngliche Heiterkeit.”

So traf es die Autorinnen unvorbereitet, wie brutal gegen die Demonstranten vorgegangen wurde. Sigrun Köhler wurde selbst während des Filmens von einem Wasserwerfer getroffen. Die Wahlstuttgarterinnen, die 2003 mit ihrer Doku „Schotter wie Heu” auf sich aufmerksam machten, haben keine Interviews geführt, sondern nur Original-Töne gesammelt. Dabei tauchen auch Verantwortliche aus der Politik und Vertreter der Deutschen Bahn auf, darunter der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus, Tanja Gönner, ehemals Umweltministerin Baden-Württembergs, und Ex-Innenminister Heribert Rech.

Mit staunendem und durchaus heiterem Blick beobachteten Wiltrud Baier und Sigrun Köhler, was in den folgenden Monaten bis zu Wahl passierte – im Großen wie im Kleinen. „Wir kümmern uns nicht um die Frage, ob dieser Bahnhof gut oder schlecht ist, sondern eher um die Begleitumstände: wie Politik und Bürger miteinander umgehen. Da tut sich eine Kluft auf: Man hat nicht das Gefühl, dass die Bürger politikverdrossen sind, sondern die Politiker.” Dazu kam, dass die enorme Präsenz der Medien die Situation zunehmend absonderlich werden ließ. „In Stuttgart kann jeder Bürger an einem Blockadetraining teilnehmen. Da ist immer ein Kamerateam dabei, das begeistert filmt, wenn freundliche ältere Damen weggetragen werden.”

Der Film zeigt, dass es auch klare Anweisungen unter den Aktivisten gäbe, wie sie sich in Anwesenheit der Presse zu verhalten hätten: Nicht zu viel lachen, zum Beispiel – man riskiert schließlich sein Leben. Und ein mühselig gemaltes Banner sollte man doch bitte nicht nachts aufhängen, wenn es keiner sieht, sondern lieber am helllichten Tag. Wie vermag man da noch zu unterscheiden, was echt und was inszeniert ist?

Auch die Ankunft von Heiner Geißler war eine wundersame Erfahrung für die Chronistinnen: „Quasi wie eine Lichtgestalt” trat er im Oktober als Vermittler zwischen den Parteien auf den Plan. „Man spürte die vielen Hoffnungen, die auf ihm ruhten – vor allem die der Gegner von Stuttgart 21. Und dann endete die Schlichtung in einem Fernsehspektakel, das alle ratlos zurücklässt."

Der bestandene Stresstest hat inzwischen zwar quasi grünes Licht für den Tiefbahnhof gegeben. Doch Ruhe geben die Gegner noch lange nicht: „Der Schwabe ist ein beharrlicher, ordentlicher Mensch. Wenn er mal protestiert, dann richtig.”

Heute, 22.45 Uhr, ARD

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