Der Traumwandler
Man stelle sich ein Wohnhaus mit einem Keller vor, erzählt Haruki Murakami. Im Erdgeschoss und ersten Stock wohnten die Menschen, während im Keller darunter die Reste ihrer Erinnerungen lägen. Unter dem Keller aber befinde sich eine finstere, bodenlose Welt. Er habe einen Gang dorthin gefunden und fange Geschichten aus der Tiefe ein und mache daraus Romane. So beschrieb der japanische Literaturstar, der an diesem Sonntag 65 Jahre alt wird, im vergangenen Mai an der Universität Kyoto bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte seine Arbeit als Autor.
Netzwerk er Seelen
Durch das Schreiben solcher Geschichten wolle er ein „Netzwerk der Seelen“ schaffen. Es sind einzigartige Welten, die der japanische Erfolgsautor in diesen Geschichten erschafft. Welten voller übernatürlicher Ereignisse und innerer Abgründe, stoischer wie auch merkwürdiger Charaktere. „Ich Freude mich mehr, wenn ein Leser mir sagt, er konnte nicht aufhören zu lachen, als dass er mir sagt, mein Buch habe ihn zu Tränen gerührt“, erzählte Murakami in Kyoto.
Lachen öffnet die Herzen
Während Trauer etwas Persönliches sei, öffne das Lachen die Herzen der Menschen. „Daher versuche ich, Humor in meine Werke zu streuen“, so der Japaner. Murakami ist der populärste und einflussreichste japanische Schriftsteller seiner Generation und wird seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Doch der im Westen zur Kultfigur avancierte Autor und erfolgreiche Übersetzer amerikanischer Texte setzt sich auch außerhalb der Literatur immer mehr mit der Gegenwart seiner eigenen Heimat auseinander. So beeindruckte er anlässlich einer Preisverleihung in Spanien mit einer Rede zur Atomkatastrophe in Fuku-shima, in der er sich mit deutlichen Worten gegen die Atomenergie aussprach.
Eine Frau weckt Lebensgeister
Zu seinen zahlreichen Werken, die in mehr als 40 Sprachen übersetzt und zum Teil als Filme oder Bühnenstücke adaptiert wurden, gehören die Romane „Wilde Schafsjagd“, „Mr. Aufziehvogel“ oder „1Q84“. Vergangenen April erschien in Japan „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“, bislang wurden dort zwei Millionen Exemplare des neuen Romans verkauft. Es ist eine Reise zu den Anfängen seiner Erzählkunst, denn „Die Pilgerjahre“ erinnert an „Naokos Lächeln“, Murakamis Durchbruch 1987. Die geheimnisvolle Geschichte handelt von dem 36-jährigen Tsukuru Tazaki, der als 20-Jähriger über Nacht aus seiner Clique verstoßen wurde – grundlos wie ihm scheint. Sein Lebenswille jedenfalls ist danach gebrochen. Erst als er Sara kennenlernt, ändert sich die Situation, sie animiert ihn, endlich die „Schublade der ungelösten Fälle im Kabinett seines Bewusstseins“ zu öffnen.
Nah am Kitsch und stark berührend
So muss Tazaki noch einmal zurück zu dem entscheidenden Jahr seiner Jugend, das sein Leben so negativ prägte. Er wird mit einem schmerzlichen Vorwurf konfrontiert, aber die Suche nach Harmonie ist nicht umsonst. In eine märchenhafte Atmosphäre bettet Murakami seine durchaus nah am Kitsch gebaute Geschichte, deren emotionaler Sog allerdings keinen Leser kalt lassen kann. Wieder spielt ein Musikstück eine entscheidende Rolle, dieses Mal „Le mal du pays“ von Franz Liszt aus den Pilgerjahren, der Sehnsuchtssoundtrack für den traurigen Helden.. „Ich glaube nur an die Vorstellungskraft. Und daran, dass es nicht nur eine Realität gibt. Die wirkliche Welt und eine andere, irreale Welt bestehen zugleich, sie hängen ganz eng miteinander zusammen“, sagte Murakami der „Zeit“. Als Wanderer zwischen diesen Welten oder Bewusstseinsstufen bringt Murakami die faszinierendsten Geschichten zurück.
Haruki Murakami: „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ (DuMont, 318 Seiten, 22.99 Euro)
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