„Der kleine Horrorladen“ im Deutschen Theater „Der kleine Horrorladen“ im Deutschen Theater

Audio von Carbonatix
Kleiner Stich, große Erkenntnis: An einem Rosendorn verletzt sich der Blumenverkäufer Seymour und er staunt, als die seltsame kleine Pflanze, die er am Straßenstand eines Asiaten entdeckt und für nicht mal zwei Dollar erworben hat, sich gierig in Richtung seines blutenden Fingers reckt.
Es ist ein Schlüsselmoment, der an F.W. Murnaus Stummfilm „Nosferatu“ aus dem Jahr 1922 erinnert. Da diniert der junge Immobilienmakler Hutter im Schloss des Grafen Orlok. Als Hutter sich mit einem Messer den Finger verletzt, fühlt der Graf sich magisch zum Blut hingezogen…
Eine vegetarische Vampirgeschichte
Im Grunde erzählt das Musical „Der kleine Horrorladen“ also eine Vampirgeschichte. Seymour muss feststellen, dass die fleischfressende Pflanze, die da eifrig an seinem Finger nuckelt, vampirischer Natur ist, dass sie immer mehr Blut, ja, Fleisch braucht, um zu wachsen. Ganz einseitig-parasitär ist ihr Verhältnis jedoch nicht, sondern symbiotisch, zieht die Pflanze, die Seymour auf den Namen „Audrey Zwo“ tauft, doch als Spektakel zunehmend Kunden an, sodass der bislang erfolglose Laden von Seymours Chef Mr. Mushnik auf einmal buchstäblich floriert.

Eine kapitalismuskritische Satire steckt in diesem Musical zudem, der Kapitalismus saugt ja in der Regel ebenfalls die einen aus und lässt die anderen gehörig wachsen, was nicht gerade charakterförderlich ist. So lässt sich der scheue Seymour von Audrey Zwo trotz einiger Gewissensbisse zu mörderischen Taten verführen, damit sein Erfolg – er wird zum Partner von Mr. Mushnik, wird von diesem gar kurzerhand zum Sohn ernannt – zusammen mit ihr weiterwuchert.
Als heiteres Grusical verbindet „Der kleine Horrorladen“ Spaß und Grauen mit beachtlich vielen eingängigen Melodien. Dabei wundert man sich nicht, dass der Broadway-Erfolg auf einem Low-Budget-Film des Horrormeisters Roger Corman basiert. „Kleiner Laden voller Schrecken“ (1960) hieß der Film auf Deutsch, wurde von Alan Menken (Komposition) und Howard Ashman (Libretto) in ein Musical verwandelt, das 1982 in New York uraufgeführt wurde und parasitär verschiedene Genres anzapft, vom Barbershop-Gesang über die Pop-Ballade bis hin zum Zahnarzt-Rock.
Hinterhof-Atmosphäre auf der Bühne
Der Stoff erlebte, typisch kapitalistisch, weitere Bluttransfusionen, wurde von Frank Oz 1986 aufs Herrlichste verfilmt und gehört auch in Deutschland zu den meistgespielten Musicals. Eine recht frische Produktion des Festspielhaus Neuschwanstein wurde jetzt zeitweilig nach München verpflanzt. Laut Programmheft wurde das Stück „unter Berücksichtigung der einzigartigen Bühnenarchitektur“ des Festspielhauses „neu konzipiert“. Die Ausstattung von Oli K und Michael Schneider passt nun erstaunlich gut ins Deutsche Theater.

Durch seitlich hereinragende Hausfassaden entsteht auf der Bühne Hinterhof-Atmosphäre. Das Musical spielt in den Sechzigern, im prekären L.A.-Stadtteil Skid Row. Während ein Obdachloser und ein paar Prostituierte exemplarisch dieses Armenviertel bevölkern, verströmt das Trio Crystal (Angelika Erlacher), Ronnette (Theresa Mandlik) und Chiffon (Nicki Burton) bereits beim ersten Song „Downtown (Skid Row)“ einigen Glamour. Die glorreichen Drei tauchen im Laufe der Handlung immer wieder auf, unterstützen gesangsstark die Solisten, erzählen die Geschichte mit.
Ein nerdiges Paar im Zentrum
Durch herabfahrbare Kulissen und eine Videoleinwand im Hintergrund entstehen verschiedene Räume, vor allem der Blumenladen von Mister Mushnik, dem Lutz Thase das richtige gereizte Temperament gibt. Schließlich läuft es mit seinem Geschäft zunächst nicht gut, und mit seinen Mitarbeitern Audrey und Seymour hat er auch nicht gerade Personal, das die Kundschaft anzieht.
Ein ausgesprochen nerdiges, gar nicht glattes Paar steht im Zentrum des Musicals, bietet sich umso mehr zur Identifikation an. Zurückhaltend sind Audrey und Seymour, sehnsüchtig, wobei Audreys beherzt besungener Traum von einem Haus „Irgendwo im Grünen“ sehr bürgerlich ist – ein konservativer US-amerikanischer Albtraum mitsamt Möbeln unter Plastikfolie und geblümter Toilettensitzdekoration, von Dirk Schattner und Benjamin Sahler lustvoll-satirisch inszeniert.
Ein rundum prächtiges Musical
Insgesamt bringen Schattner und Sahler das Musical einfallsreich auf die Bühne, bis hin zum psychedelisch ins Auge explodierenden Finale, bei dem die Kostümbildnerinnen Franziska Wüst und Svea Knudsen in die pflanzlich-grünen Vollen greifen. Die Kostüme, die Ausstattung, die Live-Musik der Band um Christian Auer sind prächtig. Das Ensemble inklusive sechs Tänzerinnen (Choreografie: Audrey-Darstellerin Stefanie Gröning) lässt manche Nummer dynamisch aufblühen. Gebremst wird die Show dennoch hin und wieder – durch die deutsche Übersetzung, die bei aller Wortkunst von Michael Kunze nur selten an das geschmeidige Original-Libretto von Howard Ashman heranreicht, aber sicherlich manchen im Publikum das Verständnis erleichtert.

Aus dem Hit „Suddenly Seymour“ wird etwa, allein schon vom Titel her ungelenker, „Jetzt hast du Seymour“, wenngleich der famose, in Gesang und Spiel wunderbar präzise Michael Konicek auch hier als Seymour das anrührende Bild eines Mannes zwischen Schüchternheit und heroischem Willen zur Selbstbestimmung abgibt. „Ich finde Seymour zum Küssen, weil Männer nicht schön sein müssen“, reimt Audrey, was ein ziemlich grässlicher Satz (der Übersetzung) ist. Den leisen Charme der Zurückhaltung strömt Audrey-Darstellerin Stefanie Gröning dennoch gekonnt aus.
Dominanz und Unterwerfung durchziehen das Grusical
Dass Audrey an dem fiesen Zahnarzt Orin Scrivello für einige Zeit hängenbleibt, mag man kaum glauben, aber der dunkle Reiz von Dominanz und Unterwerfung durchzieht ja das ganze Grusical. Die komödiantische Lust am Sadistischen hat Steve Martin im Film von Frank Oz regelrecht gefeiert – der in verschiedenen Rollen auftretende, beeindruckend wandlungsfähige Alexander Kerbst zieht da nicht weniger genussvoll nach. Ausnehmend gruselig ist Audrey Zwo, ein mit viel Liebe zum Detail gebauter Hingucker, großartig in allen Phasen gestaltet, vom süßen Pflänzchen bis hin zum riesigen Venusfallen-Verschnitt, dessen Klappmaul sich bedrohlich öffnen kann.
Die Puppenspielerin Pies Gestalten erweckt dieses Monstrum fantastisch zum Leben, Chris Murray gibt ihm seine fulminante Stimme. Das Böse klingt verführerisch tief, grausam stark, und kaum hat man es sich versehen, hat Audrey Zwo auch das Publikum um den (blutigen) Finger gewickelt, saugt gemeinsam mit seinen Mitspielern unsere angepieksten Herzen aus, erfüllt uns gleichzeitig mit mitreißendem Gesang – eine hübsche Symbiose zwischen Musical-Vampiren.
Bis zum 10. August; Donnerstag und Freitag, 19.30 Uhr; Samstag, 15 und 19.30 Uhr; Sonntag, 14.30 Uhr; Altersempfehlung: ab 12 Jahren; Preise: ab 29 Euro; Karten www.deutsches-theater.de
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