Der Hörer als Regisseur
Das Hörbuch wird erwachsen: Franz Kafkas Roman „Der Process“ nach der kritischen Ausgabe als Fragment auf 17 CDs
Bildungsbürger und hartgesottene Feuilletonesen denken bei diesem Medium noch immer im höflichsten Fall an Blinde, viel eher aber an Benjamin Blümchen und anderen Kinderkram auf Kassetten. Richtige Literatur hat gedruckt auf den Tisch zu kommen, und Hörbücher sind sowieso nur etwas für lesefaule Menschen, die im Auto oder beim Abspülen nicht ohne zusätzliche Wortkulisse auskommen.
Spätestens mit dieser Aufnahme von Franz Kafkas „Der Process“ ist das Hörbuch jedoch erwachsen geworden. Die altmodische Schreibweise des Titels signalisiert dem Kenner, dass es sich nicht um die landläufige Version des Romans handelt, die Max Brod 1925 aus dem Nachlass des Schriftstellers herausgab. Er verwandelte das aus 16 Blätterstapeln bestehende Manuskript-Bündel in eine geschlossene Erzählung, die (scheinbar folgerichtig) mit der Verhaftung Josef K.’s beginnt und mit seiner Hinrichtung endet.
Lokalkolorit
In Wahrheit ist es völlig unsicher, ob Kafka wirklich die markanten Worte „Jemand musste Josef K. verleumdete haben“ an den Anfang stellen wollte. In Anlehnung an die Historisch-kritische Ausgabe des Stroemfeld-Verlags macht das Hörbuch mit der fragmentarischen Form des Romans ernst: Jede der 17 CDs enthält den Inhalt eines der Konvolute aus dem Nachlass. Der Hörer hat die Freiheit, Brods Fassung selbst herzustellen, die Geschichte als Rückblende zu hören oder postmodern zu zerstückeln.
Dazu passt bestens, dass der Regisseur Klaus Buhlert den Text nicht nach Hörspielmanier mit verteilten Rollen lesen lässt. Die Erzählung wandert durch die perfekt ausgewählten Stimmen, wobei ein leicht osteuropäischer Akzent bei Samuel Finzi und Jeannette Spassova für ein dezentes Prager Lokalkolorit sorgt.
Nur der Schaumstoff stört
Der gröbere Tonfall von Jürgen Holtz und Thomas Thieme illustriert unspektakulär die Alptraum-Atmosphäre einer Geschichte, die halblaut und mit einer kühler Distanz erzählt wird, wie es ganz und gar Kafkas lakonischer Sprache entspricht.
Zu den Sprechern zählen auch noch Größen wie Manfred Zapatka, Rufus Beck und Corinna Harfouch. Die Stereofonie lässt sie immer wieder aus anderen Richtungen ertönen. Das gliedert den Wortfluss, drängt dem Hörer aber keine Interpretation oder ein vorgefertigtes Kafka-Bild auf.
Natürlich muss ein solches Mammutwerk gewichtig daherkommen. Dass die Box außer mit 611 Minuten Kafka auf 17 CDs nebst einem instruktiven Booklet fast zur Hälfte mit grauem Schaumstoff gefüllt ist, wirkt etwas absurd. sein. Aber das ist wirklich die einzig mögliche Kritik an diesem imponierend gelungenen Projekt.
Robert Braunmüller
Franz Kafka, „Der Process“, Der Hörverlag, Produktion: Bayerischer Rundfunk.
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