Der große Märchenonkel Günter Grass
Grasser Grimmskrams: Günter Grass hat seine „Liebeserklärung“ an die Brüder Grimm und die deutsche Sprache geschrieben, dabei aber vor allem seine politische Arbeit ins Blickfeld gerückt
Es hätte ein würdiger Abschied werden können. Günter Grass, der Künstler, Einmischer und Nobelpreisträger verneigt sich in seinem vielleicht letzten Roman vor den großen Wort-, Märchen- und Volksmythensammlern, den Gebrüdern Grimm. Doch wie so oft bei Grass hat die „Liebeserklärung“ im Untertitel von „Grimms Wörter“ vor allem einen Adressaten: den 82-jährigen Autor selbst.
Neun Buchstaben unterteilen das Grass’sche Kunstprojekt mit farbigen Vignetten, von A wie Asyl bis Z wie Ziel. Der Aufbau jedes Kapitels ist identisch. Der Autor schmeckt zunächst den jeweiligen Buchstaben ab („... ausgewiesen, abgeschoben nach anderswo hin. Ach alter Adam!“) und umreißt eine Lebensspanne von Wilhelm und Jacob im politisch so turbulenten 19. Jahrhundert.
Aber ehe man hinter den doch arg gestelzt wirkenden Wortgeflechten die beiden so unterschiedlichen Grimmschen Charaktere scharf umrissen entdecken kann, ist Grass schon in der Gelsenkirchener Werkskantine und erklärt Arbeiterinnen die Sozialdemokratie (oder sichert Willy Brandt den Wahlsieg). Den Einzug Jakob Grimms in die Frankfurter Nationalversammlung 1848 nutzt Grass für eine Abschweifung zu seinem Auftritt in der Frankfurter Paulskirche eineinhalb Jahrhunderte später als Laudator für Yasar Kemal. Wo er der „mit fetten Klunkern behängten Elite“ wieder so richtig die Meinung gegeigt hat.
Der Dichter kocht gern
Nicht immer gelingt Grass eine so plausible Überleitung ins eigene Leben, oft reicht ein Wort (zum Beispiel „darben“) und Grass verteilt in der Erinnerung Reclam-Hefte an Betriebsräte im IG-Metall Schulungszentrum Sprockhövel, um ihnen anhand von Hauptmanns „Die Weber“ die Augen für die Ausbeutung der Arbeiterklasse zu öffnen.
Das Zeitpendeln, anfangs noch mit einem gewissen Charme in Schwung gebracht, nervt im weiteren Verlauf des Buches gehörig. Wie lohnenswert es ist, das Wirken der Grimms zu beschreiben, hat Steffen Martus mit seiner ausgezeichneten Biografie im vergangenen Jahr bewiesen.
Meilenweit von diesem Niveau entfernt, lobt Grass seine eigenen Kochkünste („erkaltete Schweinekopfsülze und Erbspüree“), verteufelt die Wiedervereinigung und geißelt Adenauer. Bis es auch der letzte Leser verstanden hat: Nach den autobiografischen Büchern „Beim Häuten der Zwiebel“ und „Die Box“, sowie der Veröffentlichung seines Tagebuchs von 1990, hält Grass sein eigenes Leben und politisches Wirken noch lange nicht für auserzählt. Die Brüder Grimm, mit ihren Zettelkästen und Sammlungen tausender Zitate, dürfen sich als Gründer der deutschen Philologie nun im Dienst des Großschriftstellers unterordnen – als seine Stichwortgeber.
Da hilft nicht einmal die sonore Lesestimme der Hörfassung. Grass, schon immer ein hervorragender Interpret seiner eigenen Texte, führt auch akustisch nicht aus diesem Wortgeklingel der Selbstgerechtigkeit ans Licht der Erkenntnis.
Volker Isfort
Günter Grass: „Grimms Wörter“ (Steidl, 368 Seiten, 29.80 Euro, als Hörbuch 39.90 Euro)