Der erste Roman von Alissa Walser: Mit anderen Augen sehen
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Alissa Walser hat ihren ersten Roman geschrieben. „Am Anfang war die Nacht Musik“ erzählt vom Arzt Mesmer und einer blinden Pianistin.
Als Kind des Schriftstellers Martin Walser wird man wohl mit der Liebe zum Schreiben geboren. Johanna, die zweite Tochter, wählte den Autorenberuf. Theresia, die jüngste, wurde wie ihre älteste Schwester Franziska Schauspielerin und schreibt erfolgreich Theaterstücke. Alissa, die dritte, studierte Malerei – und gewann 1992 mit der Kurzgeschichte „Geschenkt“ den Bachmann-Preis. Nach den Erzähl-Bänden „Dies ist nicht meine ganze Geschichte“ und „Die kleinere Hälfte der Welt“ legt die 48-Jährige nun ihren ersten Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“ vor.
Das Cover hat sie selbst gestaltet. Alissa Walser greift einen historischen medizinischen Fall auf. Der Arzt Franz Anton Mesmer (1734 – 1815) behandelt in Wien Patienten mit Handauflegen und Magneten, um die Bio-Energien in Fluss zu bringen – eine umstrittene Methode. Damit soll er 1777 Maria Theresia von Paradis (1759 – 1824) heilen, die seit ihrem dritten Lebensjahr blind ist. Die 17-jährige Sängerin, Pianistin und Komponistin gilt als Wunderkind. Mesmer selbst hat den Verlauf der Therapie in seiner „Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus“ geschildert, mehrere Literaten haben ihn als Stoff genutzt, darunter Per Olov Enquist („Der fünfte Winter des Magnetiseurs“, 1964) und der Ire Brian O’Doherty („The Strange Case of Mademoiselle P.“, 1992).
Alissa Walser konzentriert ihre Darstellung auf das Verhältnis zwischen Mann und Mädchen. Sie erzählt abwechselnd aus der Sicht der beiden, stets im Präsens und in indirekter Rede. Sie gießt unausgesprochene Wahrnehmungen und Empfindungen in musikalische Sprache und zeichnet zugleich ein impressionistisches Zeitbild. Mesmer spielt Glasharmonika, über die Musik gewinnt er das Vertrauen der Jungfer Paradis, die bei anderen Ärzten Foltern erduldet hat. Bei ihm fühlt sie sich befreit und in einer osmotischen Durchdringung verstanden – sie gewinnt tatsächlich ihre Sehkraft zurück. Weil sie aber dadurch ihre Sicherheit am Klavier verliert, bricht ihr Vater die Behandlung ab und sie verfällt wieder in Blindheit.
Mesmer, der sich wissenschaftliche Anerkennung erhoffte, ist nun in Verruf. Er flüchtet nach Paris und baut dort eine Klinik auf. Doch die Welt ist nicht reif für seine Therapie der Gefühle. Noch einmal trifft er die gefeierte Pianistin Paradis, die freiwillig andere Augen für sich sehen lässt – schwebendes Ende eines Romans mit sehr eigenem Ton.
Gabriella Lorenz
Alissa Walser: „Am Anfang war die Nacht Musik“ (Piper, 253 Seiten, 19.95 Euro)
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