Der Churchill Faktor
Was macht eigentlich den britischen Charakter aus? Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson gibt die Antwort: „Im Allgemeinen humorvoll, gelegentlich auch zum Streiten aufgelegt; respektlos, aber traditionalistisch; unerschütterlich, aber sentimental; mit einer Freude an der Sprache und allen Arten von Wortspielen ausgestattet; und mit einer Neigung zu ausgiebigem Essen und Trinken.“ Diesen Charaktertest besteht Winston Churchill zu einhundert Prozent, kein Wunder, dass er in BBC-Umfragen stets als größter Engländer aller Zeiten eingestuft wird.
Ein Buch, mit dem man im Pub Lacherfolge erzielt
Im Januar 2015 jährte sich der 50. Todestag dieses jeden Rahmen sprengenden Mannes. Boris Johnson veröffentlichte aus diesem Anlass das Lebensporträt „Der Churchill-Faktor“, ein nach allen Regeln des britischen Entertainments überwältigendes Buch. Ihm gelingt das Kunststück, eine seriöse Biographie zu verfassen, die er über weite Strecken auch im Pub vorlesen könnte – und er hätte die Lacher auf seiner Seite.
Johnsons Haltung ist bisweilen die des ungläubigen Staunens: Churchill, Barockmensch aus dem Viktorianischen Zeitalter, ist an der letzten Kavallerieattacke der britischen Militärgeschichte beteiligt, gibt den Anstoß für die Erfindung des Panzers im Ersten Weltkrieg, sieht die Atombombe voraus, schreibt mehr Worte als William Shakespeare und Charles Dickens zusammen, erhält den Literaturnobelpreis, hinterlässt als ambitionierter Hobbymaler fast 600 Gemälde, raucht geschätzte 250 000 Zigarren, ist seiner Clementine 57 Jahre ein treuer Ehemann. Um es kurz zu machen: „Der alte Knabe wirkt mitunter etwas einschüchternd auf mich“, schreibt Johnson und fahndet nach dem Kraftstoff, der dieses depressiv-kreative „Genie von unglaublicher Energie und Produktivität“ am Laufen hielt.
Fündig wird er teilweise in der unglücklichen Kindheit des Mannes, der schwer am britischen Schulsystem leidet – und an den übergroßen Namen der Familiengeschichte. Vater Randolph modernisierte die Tories und brachte es bis zum Schatzkanzler, bevor er 44-jährig an Syphilis starb. Urahn John Churchill war ein großer Militärstratege im Spanischen Erbfolgekrieg, Retter des Vaterlandes und wurde dafür als 1. Duke of Marlborough mit dem Anwesen Blenheim Palace entlohnt. Hier kommt 1874 Winston Churchill in einer als Garderobe genutzten Kammer etwas verfrüht zur Welt. Seine amerikanische Mutter, eine Frau von legendärer Lebensfreude und Schönheit, hat es von einem Empfang durch die langen Flure nicht mehr bis ins Schlafzimmer geschafft.
Auf vier Kontinenten wurde auf ihn geschossen
Jahre später deutet noch nichts darauf hin, dass das schmächtige Stottererkind einmal an der Tür zur Weltgeschichte klopfen wird. Seine erste Heldentat: Der stets renitente Winston zertritt seinem Lehrer den Strohhut. Spätestens in der Militärakademie sind Winston Churchills Charakterzüge bereits ausgeprägt: rücksichtslos, draufgängerisch und fatalistisch – dazu ungeheuer eloquent. „Man könnte meinen, er dürstete – wie Achilles oder König Arthur – nach dem Prestige, das man sich nur mitten im Kampfgetümmel erwerben kann“, schreibt Johnson.
Mit 20 Jahren ist Churchill als Offizier und Kriegsberichterstatter in Kuba, zwei Jahre später mit der Malakand Field Force in der heutigen afghanisch-pakistanischen Grenzregion, bald darauf im Sudan, dann im Burenkrieg. „Er konnte sich später als einziger Premier damit rühmen, dass man auf vier Kontinenten auf ihn geschossen hatte“, schreibt Johnson. Und schon bald ist Churchill, der seine Abenteuer in Artikeln und Büchern farbigst aufbereitete, ein bekannter junger Mann im Königreich. Das führt ihn fast zwangsläufig für die Tories ins britische Unterhaus.
War Churchill ein Sexist, Rassist, Kriegstreiber? Das sind nur einige der gängigen Vorwürfe, denen sich Johnson geflissentlich stellt und als Churchills gewiefter Anwalt zu entkräften versucht. Nur für das militärische Desaster von Gallipoli, das 1915 im Ersten Weltkrieg mehr als 50 000 Soldaten des Empires (und noch mehr türkischen) das Leben kostet, gibt auch Johnson dem Ersten Lord der Admiralität, Winston Churchill, die volle negative Punktzahl: „Es bleibt nichts Anderes übrig, als den Dardanellen den Fiasko-Faktor 10 zu geben und einen Churchill-Faktor von 10.“
Allein verantwortlich ist er auch für seine Reden, Wortschöpfungen, Bonmots. Johnson besichtigt Churchills Landhaus Chartwell, die Textfabrik. Befeuert von Tabak und erstaunlichen Mengen Alkohol, redigiert und diktiert Churchill oft bis in die frühen Morgenstunden – selbst in der Badewanne, während „die Schreibkräfte auf dem Boden saßen und auf die extra gedämpften Tasten einhämmerten, die er bevorzugte“.
Hinter der Brillanz seiner großen Reden steckt neben Talent härteste Arbeit. Bis zu einer Stunde feilt er an jeder Redeminute, erinnert sich sein Enkel Nicholas Soames. „Winston Churchill verbrachte die besten Jahre seines Lebens mit der Vorbereitung seiner spontanen Bemerkungen“, spöttelt dessen Freund F. E. Smith.
Churchill lässt sich oft beim Schreiben von seiner Sprachbegeisterung mittragen: „Ich lege keinen so großen Wert auf die Prinzipien, die ich vertrete, sondern mehr auf den Eindruck, den meine Wörter machen.“
Wie Johnson Churchills Sprache analysiert und genussvoll Anekdoten und Zitate einstreut, ist großartig: Als „Schaf im Schafspelz“ verspottet Churchill z. B. den Labour-Premier MacDonald. Johnson applaudiert ihm auch für eine Attacke, „die in die große Tradition der parlamentarischen Beschimpfungen einging“: Churchill (in der Opposition) erinnert sich an eine Monstrositätenschau, die zu besuchen ihm seine Eltern verboten und fährt fort: „Deshalb musste ich 50 Jahre warten, bis ich ,Das Wunder ohne Knochen’ auf der Regierungsbank sitzen sah.“
Churchill schreibt Bestseller und bekleidet alle möglichen Regierungsämter, wechselt zu den Liberalen und kehrt zu den Tories zurück. Er polarisiert und fasziniert die Menschen. Und dennoch wäre er heute vergessen, wenn nicht jener Mann Europa in Flammen gesetzt hätte, den Churchill 1932 in München noch treffen wollte: Adolf Hitler.
Ein Mann mit Ticks macht sich zum Markenzeichen
„Ohne Churchill hätte Hitler triumphiert, und ohne Hitler wäre Churchill als brillanter Versager und Anachronismus verstorben“, schrieb einst Sebastian Haffner. Chamberlains Appeasement-Politik ist 1939 gescheitert, es tritt genau das ein, was der einsame Rufer Churchill aus dem politischen Abseits prophezeit hatte. Hitler würde Krieg führen, England ist darauf nicht vorbereitet.
Churchill gilt zwar als „aus der Zeit gefallen“, aber mit seiner Willenskraft und seinem Löwenmut kann es niemand aufnehmen. Er nimmt – ganz wie US-Präsident Abraham Lincoln – in schwierigsten Zeiten als Premier die politischen Gegner mit ins Kabinett. Von nun an kämpft der „Schwätzer und Trunkenbold“ (Hitler über Churchill) mit immensem Arbeitsaufwand für die militärische und moralische Aufrüstung des Landes und die Möglichkeit, die USA als Partner in den Krieg zu zwingen. Mit all seinem Charme und seinen pathetischen Worten.
Es sind dann doch die japanischen Bombenangriffe auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung, die den Umschwung bringen. Churchills Ruhm resultiert aus den entscheidenden Jahren des Widerstandes. Schon ab 1943 ist er allenfalls Juniorpartner von Stalin und Roosevelt und spinnt streng geheim die „Operation undenkbar“: Wiederbewaffnung deutscher Gefangener und Krieg gegen Stalin, um den russischen Einfluss auf Mitteleuropa zu minimieren. Das hat Kontinuität, denn schon 1918 hätte er sich gewünscht, der Erste Weltkrieg möge mit einem Krieg des Westens gegen Russland enden, um „die Natter in der Wiege zu erwürgen“. Es kam natürlich anders.
Während des Zweiten Weltkrieges blüht der alternde Churchill noch einmal auf. Stalin und Hitler bleiben in ihren Bunkern und Kommandoständen, er verbringt von September 1939 bis November 1943 erstaunliche 792 Stunden auf See und 339 Stunden in der Luft, 177 000 oft lebensgefährliche Reisekilometer. Und als die Alliierten von Westen nach Nazi-Deutschland drängen, pinkelt er mit seinen Generälen auf den eroberten Westwall, die Siegfriedlinie. Gebietsmarkierung der exzentrischen Art.
Er hätte auch Giftgas eingesetzt (zum Entsetzen seiner Generäle), andererseits ist der Satz „Sind wir Tiere?“ überliefert, den Churchill ausspricht, als er Bilder der von britischen Bomben in Brand gesetzten deutschen Städte sieht. Die Zerstörung Dresdens wertet er später als „bloßen Terrorakt“. So unerbittlich er im Krieg ist, so milde zeigte er sich mit den Besiegten.
Nach dem Sieg der "Hinauswurf erster Klasse"
Im Mai 1945 lässt sich Churchill feiern, schon am 26. Juli bekommt er von der britischen Wählerschaft einen „Hinauswurf erster Klasse“. „Die Menschen brauchten eine neue Sprache, eine neue Vision für ein Nachkriegs-Großbritannien“, schreibt Johnson, „die fand der erschöpfte Churchill nicht.“ Labour gewinnt mit Clement Atlee an der Spitze.
Mit knapp 70 ist Churchill am Ende, hält die Welt aber weiter in Atem. Er prophezeit die Zukunft Europas, geteilt von einem „eisernen Vorhang“ (seine Wortschöpfung), und wird für seinen Pessimismus gescholten. Wieder einmal ist er weiser als viele andere. Er schreibt seine Memoiren und reist als Marke durch die Welt: original nur mit Kopfbedeckung (Johnson nennt ihn den „Imelda Marcos der Hüte“), Stock, Victoryzeichen, Havanna und boshaft-markigen Sprüchen. 1951 wird er tatsächlich noch einmal Premier, kann das Amt aber nach einem schweren Schlaganfall nicht bis zum Ende ausführen. Dennoch bleibt er im Unterhaus, wo er es auf 6 Jahrzehnte als Abgeordneter bringt. Churchill stirbt am 24. Januar 1965 im Alter von 90 Jahren.
London-Korrespondent Thomas Kielinger, der im letzten Jahr eine lesenswerte Churchill-Biographie veröffentlichte, erkennt neidlos an: „Eine bessere Paarung als Churchill und Johnson, die sich auf dem gemeinsamen Nenner von Querdenken und Exzentrik grüßen, ist schlechterdings nicht denkbar.“
Boris Johnson, der selbst Premier werden möchte, weist den Verdacht, der „Churchill Faktor“ sei ein Bewerbungsschreiben, weit von sich. Aber er reanimiert mit dieser Liebeserklärung an die „Unbezähmbarkeit des menschlichen Geistes“ seinen Helden für eine neue Generation.
Boris Johnson: „Der Churchill Faktor“ (Klett-Cotta,
472 Seiten, 24.95 Euro)
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