Der Blick nach innen
José Campanella sorgte mit seinem bewegenden Drama „In ihren Augen“ für eine Überraschung, als er Hanekes „Das weiße Band“ den Oscar für den besten ausländischen Film wegschnappte
8Blau zieht sich die Spur der Gewalt über die elfenbeinfarbene Haut der Frau. Ihr nackter Körper ist vom Bett gerutscht, das schöne Gesicht für immer zur Seite gedreht. „Was kriegt er, wenn ihr ihn findet?“, wird der Ehemann des Opfers fragen. „Lebenslänglich“, lautet die Antwort des Kriminalbeamten.
Sie sollen alle lebenslänglich bekommen. Das Verbrechen zurrt die Schicksalsfäden um seine Protagonisten, die erst ein Vierteljahrhundert später entwirrt werden. Da ist der Beamte Espósito schon pensioniert. Er möchte über den Mordfall ein Buch schreiben, über die Bilder, die ihn immer wieder einholen. In farbarmen Szenen fantasiert Espósito Anfang und Ende einer Geschichte, die auch von einer unerklärten Liebe erzählt.
Besessen von der "reinen Liebe"
„In ihren Augen“ von José Campanella gewann bei der Oscar-Verleihung 2010 den Preis als „Bester fremdsprachiger Film“ und siegte damit über „Das weiße Band“ von Michael Haneke. Beide Filme eint eine besondere Bildästhetik, die in der spanisch-argentinischen Produktion auf eine psychologisierte Kameraführung zurückgeht. Kameramann Félix Monti tritt den Figuren nicht nur nahe, sondern verrät in der Perspektive ihr Innenleben. Monti schaut in langen Rückblenden den Schauspielern über die Schulter, bleibt dicht am Geschehen und sucht in den Gesichtern das Nichtgesagte. Wenn Ehemann Ricardo Morales Selbstjustiz gesteht, sind nur Ausschnitte seines Gesichts zu sehen. Es ist der Zweifel Espósitos’, der am Bild nagt.
„Wie lebt man ein leeres Leben?“ versucht Espósitos zu ergründen. Er will sich seiner dunklen Vergangenheit stellen, deren Leerstellen ihn verfolgen. Da stürmt er in das Zimmer der Frau, die er liebt, und sie erwartet eine Aussprache unter vier Augen. Doch Espósitos will von ihr als Anwältin nur die Wiederaufnahme des Mordfalls, völlig besessen von der „reinen Liebe“ des Paares, die ein Mord brutal beendet hat. Es ist ein tragischer Moment verpasster Chancen, in der die ganze Emotionalität des Films zu einem Rauschen anschwillt.
Tragisch-komisch ist die Rolle von Kollege Sandoval, der Espósitos bei der Klärung des Falls behilflich ist. Schmächtig und alkoholkrank schlingert er durch die Ereignisse, was beide in slapstickhafte Manöver zwingt. In einer Bar schließlich hat Sandoval die entscheidende Erkenntnis: „Ein Mensch kann alles ändern, nur nicht seine Leidenschaften“ – ein Satz, der das Verbrechen klärt und die Liebenden zusammen führt.
Campanellas Film bewegt sich zwischen mehreren Genres: Mal Thriller, dann wieder Drama oder sogar Komödie, begibt er sich mit stoischer Ruhe auf die Suche nach der Wahrheit im Detail.
Lisa Kassner
R: José Campanella, B: Eduardo Sacheri, José Campanella
Kino: Eldorado, Münchner Freiheit, Studio Isabella
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