Der alte Mann und das Kind
8Elegant bahnt sich die Kamera zwischen dicken Schneeflocken einen Weg zu einem märchenhaft verschneiten Pariser Bahnhof. Man schlängelt sich auf Kleinkindhöhe durch die Beine der wuselnden Passanten, die noch rasch einen Zug erhaschen wollen oder hier täglich ihren Dienst verrichten müssen. Die atemberaubende, scheinbar schnittfreie Fahrt im 3D-Sog scheint kein Ende zu nehmen, bis zwei weit aufgerissene, wasserklare Augen aus einem Versteck auftauchen. Sie glänzen so unwirklich-neugierig, als kämen sie nicht von einem Menschen, sondern von einer computeranimierten Figur.
Aber hier ist nicht Andy Serkis am Werk, dessen Daten eingescannt wurden, um Gollum aus „Herr der Ringe” zum schaurigen Leben zu erwecken. Asa Butterfield spielt diesen zwölfjährigen Waisenjungen, der in den verwinkelten Gängen des Bahnhofs das Werk seines bei einem Unfall verstorbenen Vaters fortsetzt. Der technikaffine, aufgeweckte Bursche, von dessen Existenz niemand weiß, kümmert sich um die Stationsuhren, zieht sie auf, und ist wie magisch angezogen von der Funktionsweise der gigantischen Zahnräder. Außerdem versucht er Papas Liebhaberprojekt, ein Robotermensch, der an Brigitte Helm aus „Metropolis” erinnert, zum Leben zu erwecken.
Hugo, die Figur aus dem illustrierten Kinderbuch von Brian Selznick, kann man auch als Alter ego von Martin Scorsese deuten. Der Regisseur solcher Klassiker wie „Taxi Driver” und begeisterter Filmhistoriker wagt sich hier zum ersten Mal an einen Kinderfilm. Aber hinter der „Einsamer Junge versucht im Leben Fuß zu fassen”-Fassade ist „Hugo Cabret”, der für elf Oscars nominiert wurde, in erster Linie eine spektakulär bebilderte Hommage an die Anfänge des Kinos. Es überrascht daher nicht, dass „Marty” die Szenen von Georges Méliès (Ben Kingsley) besonders liebevoll und emotional gestaltet, während Hugos Schicksal einen nie wirklich gefangen nimmt.
Méliès, der verspielte Zauberer der Stummfilmära, der dem Mann im Mond eine Kapsel aufs Auge drückte, fristet im Bahnhof als vertrockneter Spielzeugladenbesitzer ein trauriges Dasein. Doch Hugos Begeisterung für das scheinbar Unmögliche öffnet das Herz des Griesgrams. Wie Scorsese das Lebenswerk von Méliès bis in die kleinste Pappfigur nachstellt, treibt Cineasten die Tränen in die Augen. Ob heutige Kids mit dieser nostalgischen Geschichtslektion, die sich thematisch auch in „The Artist” wiederfindet, etwas anfangen können, steht auf einem anderen Blatt.
Die ernüchternden Einspielergebnisse des 170 Millionen Dollar-Projekts sprechen hier eine eigene Sprache. Scorseses rührende (Film-)Leidenschaften vertragen sich wohl einfach nicht mit den Eskapismus-Vorstellungen der iPod-Generation.
Kino: Cinema (OV), CinemaxX, Leopold, Mathäser, Royal. R: Martin Scorsese (USA, 126 Min.)
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