Den Rosenduft besingen

Die Literaturhandlung wird 30 Jahre alt: Rachel Salamander über ihren schlechten Schlaf, das jüdische Leben in Deutschland und den Wandel der literarischen Öffentlichkeit in digitalen Zeiten.
Volker Isfort |
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Sie ist, wie ihre Buchhandlung, eine Institution. Vor dreißig Jahren gründete Rachel Salamander die Literaturhandlung. Sie hat heute zwei Filialen in München, einen Ableger in Berlin und unterhält Museumsshops in Dachau, Fürth, Dorsten, Würzburg und Augsburg.

AZ: Frau Salamander, Sie haben Ihre Buchhandlungen, sind eine emsige Kulturveranstalterin, außerdem Herausgeberin der „Literarischen Welt“. Wann haben Sie eigentlich selbst Zeit für Lektüre?
RACHEL SALAMANDER: Ich bin eine sehr schlechte Schläferin. Ich hadere aber nicht damit, sondern lese meist von halb drei in der Früh bis um halb sieben – dann schlafe ich noch eine Stunde und dann steh ich auf.

Haben Sie mit Ihrer Buchhandlung im Jüdischen Museum einen neuen Kundenkreis erschließen können?
Wir haben neben unserem Stammpublikum viele Museumsbesucher, die nach visuellen Eindrücken offenbar einen starken Informationsbedarf haben. Wir sind ein intensiver Ort für die Nachbereitung und bieten die weiterführende Literatur zum Judentum und zu jüdischer Geschichte. Auch wenn das Thema immer wieder in den Medien präsentiert wird, heißt es nicht, dass die Menschen schon über ein ausreichendes Wissen über das Judentum verfügen.

Das haben Sie wahrscheinlich auch bei der Beschneidungsdebatte gespürt. Hat Sie die Vehemenz überrascht?
Überrascht hat mich die Ignoranz und das Unverständnis über jüdische Gesetze und Gebräuche. Da sich die Debatte auch gegen den Islam richtete, wurde das Thema von antireligiösen Stimmen instrumentalisiert. Die alten antisemitischen Klischees kamen nur vereinzelt vor. In einem Land, in dem abertausende jüdische Kinder in den Tod geschickt wurden, finde ich die Aufregung über die körperliche „Versehrung", also die Beschneidung als Körperverletzung, doch ein wenig weit her geholt.

Heißt das für Sie, dass die Toleranz unserer Gesellschaft immer brüchig ist?
]Sagen wir so: Die Intervalle, in denen die Zumutungen auf jüdische Menschen in Deutschland zukommen, werden eigentlich immer kürzer. Erst Günter Grass’ Gedicht, dann die Beschneidungsdebatte, dann wird ein Rabbiner in Berlin verprügelt. Ich muss aber auch sagen: Die Deutschen, mit denen ich persönlich zu tun habe, vermitteln mir ein ganz anderes Bild. Ich habe sehr viele nichtjüdische Freunde, die sich bei solchen Zumutungen – übrigens auch Politiker und Journalisten – meist noch mehr aufregen als ich.

Sie leiten nun 30 Jahre eine spezialisierte Buchhandlung. Sind die besser gewappnet gegen Amazon & Co.?
Das habe ich auch immer gedacht. Viele Leute bestellen bei uns online, was die Großen gar nicht im Sortiment führen. Aber Spezialisierung bedeutet ja zudem, Bücher und Nonbooks aus allen Ecken der Welt zusammen zu tragen. Das macht viel Arbeit.

Sie pendeln oft nach Berlin. Dort ist das kulturelle Angebot der jüdischen Gemeinde sicher üppiger?
Nein, überhaupt nicht. Natürlich leben dort wieder mehr Juden, dafür ist aber auch die Gemeinde in mehrere Gruppierungen aufgeteilt. In München ist sie homogener. Nein, wir können sehr gut mithalten. Was hier vor 30 Jahren mit der Gründung der Literaturhandlung anfing, das ist Modell geworden. Die Literaturhandlung hat von der kleinen Fürstenstraße ausgehend eine große Wirkung erzielt. Was das geistige jüdische Leben im deutschsprachigen Raum betrifft, hat die Literaturhandlung – wenn ich das so selbstbewusst sagen darf – Maßstäbe gesetzt.

Welches Buch hat Sie zuletzt begeistert?
Ich bin total begeistert von Florian Illies’ „1913“. Wie sich da vor dem Abgrund des Ersten Weltkrieges die Gesellschaft noch kulturell aufschaukelt, das ist sehr beeindruckend. <QA0>

Haben Sie da ein nostalgisches Gefühl?
Mich fasziniert die große Zahl von Begabungen, die sich damals artikulierten. Irgendwie vermissen wir das heute. In meiner Arbeit mit der Literaturhandlung erlebte ich Ähnliches. Bei den Veranstaltungen der ersten Jahre kamen Autoren wie Schalom Ben-Chorin, Jurek Becker, Hans Jonas oder Grete Weil zu mir. Das waren alles deutsche Juden – das einstige deutsche Judentum existiert nicht mehr. Robert Schindel, Barbara Honigmann, Maxim Biller oder Henryk M. Broder, die sogenannte zweite Generation, musste sich mit dem Nachleben des Holocaust auseinandersetzen und hat sich im deutschen Literaturleben Gehör verschafft. Bei den unter 40-Jährigen sehe ich vor allem interessante Autorinnen aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie schreiben in deutscher Sprache, ohne in der deutsch-jüdischen Geschichte zu Hause zu sein.

München ist nicht Brooklyn.
Zieht man die amerikanische Situation zum Vergleich heran, dann sind auch die jungen Brooklyner Autoren wie Jonathan Safran Foer oder Nicole Krauss nicht gerade Philip Roth oder Saul Bellow. Bei den jungen Autoren stört mich das Einstudierte, das durch „creative writing“ Antrainierte. Wie bei jeder Blüte kommen und vergehen auch literarische.

Wird Literatur heute unwichtiger und an den Rand gedrängt?
Ich fürchte, dass mit der digitalen Revolution das literarische Leben, so wie es sich Mitte des 18. Jahrhunderts in den literarischen Hauptstädten herausgebildet hat, einen massiven Strukturwandel erlebt. Was die neuen technologischen Voraussetzungen mit der Literatur anstellen werden, ist schwer zu sagen. Ich jedenfalls habe noch nie eine auch nur im Ansatz so schön formulierte e-mail bekommen, die mit den Briefen, die ich in meinem Leben erhalten habe, konkurrieren könnte.

Also sind Sie doch eine Kulturpessimistin?
Nein, überhaupt nicht. Es wird sich nur viel verändern. Und die nächsten Generationen müssen halt damit leben. Ich habe früher auch immer gelacht, wenn die Älteren von besseren Zeiten redeten. Aber jemand, der nicht weiß, wie früher eine Rose gerochen hat, der vermisst den Duft heute auch nicht. Er wird nur ein Goethe-Gedicht nicht mehr verstehen, wenn der die Rose so besingt.

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