Das Leben, ein einziger Exzess

Der Tod kam schon mit 30 – in der Villa Stuck ist jetzt das Werk des schrillen Bostoner Fotokünstlers Mark Morrisroe zu sehen
Christa Sigg |
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Lebe wild und gefährlich” – vor zwanzig Jahren hopste dieser Slogan der Grünen Jutta Ditfurth durch die Ökoszene. Und man dachte dabei an blaue Haare, Haschvollkornkekse und Solarenergie. Aber nicht an das, was in den Achtzigern wirklich wild und vor allem gefährlich war: sich ins Stricherleben zu stürzen, exzessiv und ungeschützt. Mit zarten Fünfzehn prostituierte sich Mark Morrisroe bereits, ein Freier rächte sich, die Kugel blieb im Brustkorb, fünfzehn Jahre später, 1989, bezahlte er schließlich doch mit dem Leben – Aids hatte den bis zum elenden Ende wie im Rausch produzierenden Fotokünstler dahingerafft.

In der Villa Stuck ist nun das Werk des schrillen Performers der Bostoner Drag-Szene erstmals in einer deutschen Retrospektive zusammen gefasst. Ein winziger Bruchteil. Morrisroe werkelt bereits als Schüler wie ein Getriebener, klebt, kritzelt, kopiert mit einer frühen Muse die ersten linkischen Celebritiy-Heftchen zusammen – „Dirt-Magazines”. Und irgendwie bleibt ihm diese Manie des Menschensammelns, das Aneinanderreihen von glamourösen Posen und Schnappschuss-Gesichtern. Sein Lieblingsobjekt allerdings ist er selbst. Mark, der hübsche, feingliedrige Narziss, der die aberwitzigsten Geschichten erfindet und sich zum Sohn eines Monsters und einer drogensüchtigen Prostituierten stilisiert.

Morrisroe ist hin und hergeworfen, zieht als Teil des Travestie-Duos Clam Twins durch die Nacht, und studiert tagsüber an der renommierten School des Museum of Fine Art in Boston. Malerei. Doch das Experimentieren mit Polaroids und Schwarz-Weiß-Abzügen, den „Sandwich-Prints”, wird seine Sache. Und er findet neben all den verruchten Blicken und knackigen Hintern, die nicht nur entfernt an die Arbeit von Nan Goldin erinnern, neben mächtigen Gemächten und Wolkenkratzern, den Chi-Chi-Hundchen und Akkordeonspielerinnen zu einer frappierenden Farbigkeit, die immer auch Gefahr läuft, ins Dekorative zu schwappen, vordergründig ein kuschelig-kitschiges Bedürfnis nach Couchambiente zu bedienen.

Doch dann sind da auch die trashigen Super-8-Filme, die wie Impro klingen, aber nach einem Konzept gedreht werden, etwa Tennessee Williams Text über die Prostituierte Bertha, die Morrisroe grausig an Liebeskummer leiden lässt. Man ist überrascht von eleganten Bildkompositionen, die an die Odalisken eine Ingres, die lyrische Körperlichkeit eines Flandrin erinnern, dramatisiert von einem, der sein Schwulsein aufs Tablett stellt. Und dann, im kahlen Krankenzimmer einer HIV-Station den letzten Schaffensrausch lebt, die Nasszelle zur Dunkelkammer umfunktioniert, Röntgenbilder bearbeitet, vom Schädel, von der Lunge, die sich auflösen, und damit auf sehr intime Weise seine innere Wunde zeigt.

Villa Stuck, bis 28. Mai, Katalog (JPP Ringier) 45 Euro

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