Das Kleinformat ganz groß
Beim Berliner Theatertreffen war Andreas Kriegenburgs Münchner „Prozess“-Inszenierung der Publikums- Favorit – und Jürgen Gosch siegte gleich zweimal
Am Anfang ein Pontifikalamt, am Ende ein Barrikadensturm – mehr sollte man vom Berliner Theatertreffen wirklich nicht erwarten. Das Festival der Jahres-Auslese bot zwischen Christoph Schlingensiefs weihgeräucherter Selbstbetrachtung in der „Kirche der Angst“ und Volker Löschs „Marat“- Marsch der Hartz-IV-Choristen mehr überraschende Spielarten als in den Vorjahren.
Denn weder die beiden Extremsportler von privatisierter und politisierter Dramatik noch die „Klassiker“-Schlachten der Regie-Titanen bestimmen die Bilanz. Das besorgen, den Sonderfall des doppelt vertretenen Ausnahme-Regisseurs Jürgen Gosch ausgeklammert, eher Stücke, die gar keine sind. Auf der Bühne sitzt ein Burgschauspieler im Alter von 42 Jahren und erzählt ausführlich sein Leben. Ein bisschen früh, ein bisschen anmaßend? In der Tat, aber was für ein Erlebnis!
Joachim Meyerhoff, erst seit wenigen Jahren als schreibender und inszenierender Akteur wahrgenommen, hat sich in Wien neben vielen Hauptrollen den Freiraum für ein Nabelschauspiel in Serie erkämpft. Und das verläuft völlig anders als Schlingensiefs Spiegelblick. „Alle Toten fliegen hoch“ ist der Titel der auf sechs Teile angelegten und gerne auf Fantasy-Brücken ausschwingenden Autobiografie, die zwischen Lesung und Plaudern beginnt und mit Hilfe weniger Requisiten ein komödiantisches Spannungsfeld ausmisst, das man auftrumpfenden Groß-Produktionen nur wünschen kann.
Kurzweiliger Fünfstünder
Meyerhoff erzählt von der Familie und ihrem Anhang, wie es seit „Herr Lehmann“ niemand besser konnte, und rührt mit diesem Bühnen-Roman so sehr wie er amüsiert. Drei Teile der bisher fünf vorhandenen wurden in Berlin zusammengefasst, und nach fünf Stunden schaute mancher Zuschauer ärgerlich auf die Uhr, im Bewusstsein von nur noch 20 verbleibenden Minuten. Dieser Erfolg könnte dazu führen, die Rahmenprogramm-Verbannung für Studioproduktionen aufzuheben, das Kleinformat in seiner wahren Größe zu erkennen.
Auch das Kroetz-„Wunschkonzert“ von Katie Mitchell (Köln) gehört zu solcher Experimentierlust, obwohl die Ausführung ihres komplexen Performance-Kunststücks zu den teuersten im Angebot zählt. Denn die britische Regisseurin hat das stumme Ein-Personen-Stück von der einsamen Angestellten, die nach Feierabend ordentlich ihre Freizeit ablebt und in aller Bescheidenheit stirbt, zum Live-Dreh eines Films gemacht.
Alles ist Studio, die schlichten Szenen werden zergliedert in Kino-Schnittchen mit Hand-Model für Großaufnahmen und Mikros für Soundeffekte. Alle kümmern sich hingebungsvoll ums Funktionieren des wortlosen Unheils. Verblüffend, auch für den begeisterten Autor, der sich endlich wieder wohl fühlte im Theater. Auch wenn die Organisation des Dramas mehr beeindruckte als sein Inhalt, blieb alles doch nah am Original. Anders als beim „Marat“ mit dem Pranger-Effekt, den Peter Weiss so als Comeback niemals akzeptiert hätte.
Jubel für die Kammerspiele
Auf erwartbarer Augenhöhe drei Regie-Größen. Martin Kušejs knallhart geschärfter Psychothriller „Der Weibsteufel“ aus Wien, dem Text von Karl Schönherr abgetrotzt, brachte mit Birgit Minichmayr die imposanteste schauspielerische Leistung. Andreas Kriegenburg (Kafkas „Prozess“ aus München) und Nicolas Stemann (Schillers „Räuber“ vom Thalia Theater) gerieten in ungeplanten Vergleich, weil beide ihre Protagonisten vergesellschaftet hatten. Was beim verrockten Schiller mit der ständig die Fronten wechselnden Rezitations-Boygroup als Konstruktion vor Augen tobte, kam bei den vielen Herren K. in der Kafka-Pupille als Bild an. Das Ensemble der Kammerspiele, stürmisch gefeiert für die Verbindung von Entertainment und Intelligenz, war der Publikums-Favorit Nr. 1.
Uneinholbar freilich Jürgen Gosch und sein Team. Mag die allseits geliebte Berliner „Möwe“ die Genialität von „Onkel Wanja“ aus dem Vorjahr auch nicht ganz erreichen, so lösen sich solch luxuriöse Vorbehalte bei „Hier und Jetzt“ aus Zürich einfach auf. Denn da hat Gosch, wieder mit grandiosen Schauspielern wie Corinna Harfouch, an der langen Hochzeitstafel von Roland Schimmelpfennigs mittelprächtigem Stück vorgeführt, wie Regiekunst auch auf flachem Resonanzboden federn kann. Eine rasante Berg- und Talfahrt durch Tragödie und Klamotte. Das Publikum als Teil einer alltagsanarchistischen Familienfeier, die den Tumult als Standardsituation verinnerlicht.
Dieter Stoll