Das Filmfest München: Tipps zum Wochenende

Wahr: "Los Colonos", Wunderbar: "Neue Geschichten vom Franz", Gemeinsam: "Smoke Sauna Sisterhood", Einsam: "Pornomelancolía"
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Ein pervers zusammengespanntes Trio: Ein Schlächter (Mark Stanley), der Mestize Segundo (Camilo Arancibia) und der Großgrundbesitzer (Alfred Castro).
Filmfest München 4 Ein pervers zusammengespanntes Trio: Ein Schlächter (Mark Stanley), der Mestize Segundo (Camilo Arancibia) und der Großgrundbesitzer (Alfred Castro).
Von rechts: Jossi Jantschitsch, Nora Reidinger, Leo Wacha
FFM 4 Von rechts: Jossi Jantschitsch, Nora Reidinger, Leo Wacha
Der Arbeiter Lalo verdient sich als Sex-Influencer und -worker
FFM 4 Der Arbeiter Lalo verdient sich als Sex-Influencer und -worker
Irgendwann empfindet man sich selbst als Teil dieser sich gegenseitigen unterstützenden und schwitzenden Gruppe
FFM 4 Irgendwann empfindet man sich selbst als Teil dieser sich gegenseitigen unterstützenden und schwitzenden Gruppe

Tipp1: "Los Colonos", eine bildgewaltige Abrechnung mit dem Kolonialismus in Chile

Hunderte Schafe drängt es dicht an dicht. Ein Zaun wird errichtet. Plötzlich zerreißt ein Schrei die Stille bei der harten Arbeit. Ein Mann hat sich den Arm abgerissen, blutet stark. Mitten hinein in die Unruhe reitet ein bärtiger Mann in feuerroter Uniform. Kurz nur betrachtet MacLennan (Mark Stanley) den wimmernden Verletzten am Boden und macht dann wie selbstverständlich das einzige, was er für angebracht hält: einen Gnadenschuss. "In dieser Gegend ist ein Mann ohne Arm einer weniger, verstanden!", so seine eisenharte Begründung. Die Grausamkeit beobachtet mit großen wachen Augen, die sichtlich schon zu viel Leid gesehen haben, der Mestize Segundo (Camilo Arancibia). Die Wege des britischen Schlächters und des "Halbbluts", wie Segundo immer wieder bezeichnet wird, werden sich unfreiwillig wieder kreuzen.

Einen wütenden Film, ja eine Provokation, hatte Felipe Gálvez mit seinem beeindruckenden Debüt "Los Colonos" vor Augen. Die Narben in der chilenischen Kolonialgeschichte will er hier wieder aufreißen, von Wunden erzählen, die noch längst nicht verheilt sind, so wie der Genozid an den Selk'nam, einer südamerikanischen Ethnie in der Tierra del Fuego Provinz. Als Stilmittel bedient sich Gálvez frech beim Western, wohlwissend, wie viele Filme dieses Genres die Indigenen Nordamerikas plump als Feindbild kennzeichneten.

Der historisch verbürgte Großgrundbesitzer José Menéndez (Alfred Castro) hat es sich 1901 zur Aufgabe gemacht, seine gigantischen Ländereien in Richtung Atlantik erweiternd zu erschließen. Für diese Aufgabe, die unausgesprochen das Ausrotten der Selk'nam bedeutet, beauftragt er MacLennan, der ausgerechnet Segundo rekrutiert, weil der nicht nur gut schießen, sondern "Indianer von weitem riechen könne". Das unheilige Trio vervollständigt der abgezockte texanische Söldner Bill (Benjamin Westfall).

Während sich die Männer streitend zur argentinischen Grenze vorarbeiten, verändert sich auch die überwältigende Landschaft, weg von der endlosen Weite bis hin zu den nebeligen Anden.

Eine Stärke des Films ist es die Schönheit der Natur mit den nie ästhetisierten Gräueltaten seiner Figuren zu kontrastieren, bevor gegen Ende, nach einem Zeitsprung von sieben Jahren, noch einmal die Politik ins Spiel kommt - und Segundos Leidensgeschichte eine neue Wendung erfährt. (Florian Koch)

Sonntag, 25.6., 20.30 Uhr, Rio und Montag, 26.6., 14.30 Uhr, Hochschule für Fernsehen & Film (HFF)


Tipp 2: Highlight auf dem Kinderfilmfest: "Neue Geschichten vom Franz" nach der Vorlage von Christine Nöstlinger

Gute Freunde kann niemand trennen, behauptete 1967 in einem Schlager einst Franz Beckenbauer. So wackelig wie die Stimme des Fußball-Kaisers ist aber nach wie vor auch die Botschaft seines Gassenhauers. Jedenfalls kann Franz (Jossi Jantschitsch) es sich einfach nicht erklären, warum sich seine besten Freunde, die schlaue Gabi (Nora Reidinger) und der gemütliche Eberhard (Leo Wacha), ausgerechnet dann in die Wolle kriegen müssen, wenn die minutiös durchgeplanten Sommerferien anstehen. Aber Franz wäre nicht Franz, dieser feinfühlig-wuschelhaarige Bub aus Christine Nöstlingers 19-bändiger Kinderbuchreihe, wenn er nicht eine pfiffige Idee zur Versöhnung hätte. Basierend auf der beiläufigen Bemerkung seines Papas (Simon Schwarz), dass das stärkste Band einer Freundschaft ein gemeinsamer Feind sei, inszeniert Franz ein heikles, aber solidarisches Ausspionieren der verschrobenen Nachbarin (Maria Bill), in der er eine Juwelendiebin vermutet. Und so verwandelt sich der zweite Kinofilm der "Geschichten vom Franz"-Reihe dann auch in eine klassische Detektivgeschichte mit drei kindlichen Wiener Ermittlern. Aber wie schon im ersten Teil, der gewitzt mit Männlichkeits-Klischees spielte, lässt sich Regisseur Johannes Schmid ("Blöde Mütze") nicht auf eine simple Verbrecherhatz ein. Mit einem wunderbar natürlichen Ensemble geht sein angenehm unaufgeregter Film lieber der Frage nach, wie man sich am besten aus einem moralischen Dilemma befreien kann, ohne jemanden nachhaltig zu verletzen. Und ganz beiläufig erzählt diese heitere wie schlaue Sommerkomödie für alle ab 5 in 70 schlanken Minuten auch noch, wie galant sich selbst böse Fehltritte wiedergutmachen lassen. (Florian Koch)

Sonntag, 25.6., HFF Audimax, 15.30 Uhr und wieder am Montag, 26.6., 9 Uhr, HFF Audimax


TIPP3: Das Innenleben von Frauen: "Smoke Sauna Sisterhood"

Die Sauna als Ort der Wahrheit und der Solidarität. Zwischen Aufguss, Peeling und Rückenschrubben treffen sich Frauen durch die Jahreszeiten in einer Holzhütte im Wald nahe eines Sees im Süden Estlands. Ana Hint betrachten das Kollektiv mit feiner Empathie, hört den Erzählungen zu, wirft einen Blick in ihre Seelen. Die Frauen ohne Namen sind exemplarisch mit ihren Berichten vom Leben in einer Gesellschaft sozialer Repression und muntern sich gegenseitig auf. Ob Mutterschaft, Sexualität oder sexuelle Gewalt - alles kommt zur Sprache. Es sind ergreifende Geschichten über einen frauenfeindlichen Alltag mit auch humorvollen und ironischen, teils absurden Anekdoten über Tinder-Erlebnisse oder über einen Kerl, der beim Sex forderte "Den Penis, bitte" zu sagen. Kreischendes Gelächter! Manche Kindheitserinnerungen sind hart. Vieles dreht sich um die Mutterschaft. Erschütternd die Erinnerungen einer Frau, die ein totes Kind gebären und auf einen Kaiserschnitt verzichten musste, wie sie das erst warme, dann immer kälter werden Wesen im Arm hielt und darüber grübelt, ob durch die Geburtsschmerzen der Schmerz über den Verlust vielleicht schon etwas weggespült wurde. Die dunkle, aber nie larmoyante Stimmung wird immer wieder aufgebrochen durch fröhliche Gemeinschaftsaktivitäten wie durch den Schnee laufen, ins eiskalte Wasser springen oder traditionelle Rituale der Verscheuchung böser Geister. Die Kamera ist in diesem außergewöhnlichen Porträt weiblicher Verwundbarkeit und Kraft trotz aller Nacktheit diskret, richtet sich auf die Körper ohne Prüderie aber auch ohne Voyeurismus, meistens sind es nur Rücken, Po, Brüste, Arme, Hände. Oft sieht man nicht das Gesicht der Frau, die spricht, sondern das der Zuhörerinnen. Irgendwann empfindet man sich selbst als Teil dieser sich gegenseitigen unterstützenden und schwitzenden Gruppe und fühlt, nicht nur die Körper werden gereinigt, sondern Kummer und Leid vielleicht geheilt. Zum estnischen Saunagang gehört auch Singen. "Werde stark , werde mächtig" lautet ein Refrain in diesem Dokumentarfilm, den die Regisseurin am Ende "allen meinen Schwestern" widmet. (Margret Köhler)

Samstag, 24.6., 16 Uhr, City, Sonntag, 25.6., 17 Uhr, Rio


TIPP 4: Das Dokudrama "Pornomelancolía" beleuchtet behutsam, doch ohne Scheu eine einsame Seele: Dieser Film ist wohl in jeder Hinsicht unerotisch. Oft kennt er nur zwei extreme Seiten, nämlich die pornografische und die melancholische. Seinem Titel wird Manuel Abramovichs "Pornomelancolía" also gerecht. Und das Fehlen jeglicher Erotik ist dabei seine erste große Stärke. Der Arbeiter Lalo verdient sich als Sex-Influencer und -worker nebenbei ein Zubrot. Die Freude seiner Kunden und Follower teilt er dabei nicht, eher ist die Depression seine ständige Begleiterin. Gerade herausgesagt wird das während des Films nicht. Die kühlen, distanzierten Bilder sprechen für sich selbst, Lalos zurückhaltendes Spiel tut sein Übriges. Der wird übrigens nicht durch einen Schauspieler verkörpert, sondern von ihm selbst. Auch der zentrale Pornodreh fand wirklich so statt. Und das filmische Endergebnis "Pornozapata" ist ein bizarres Stück Realität. Wenn Lalo als schwule Variante des Revolutionärs Emiliano Zapata auftritt, gewinnt sogar abstruser Humor die Oberhand. Die triste Hölle seines Lebens lässt sich auch von noch so oft wiederholten Sexszenen nicht vertreiben. "Pornomelancolía" ist mehr als ein Einblick in einen Tabuberuf. Vielmehr zeigt er dezent und direkt zugleich das Nichts der Oberflächlichkeit, das heute von jedem Besitz ergreifen kann. Geschlecht, sexuelle Orientierung und Herkunft spielen dabei keine Rolle. "Pornomelancolía" ist dabei weder anklagend noch niederschmetternd, sondern besitzt bei all seiner Kälte auf einmal wieder ein hohes Maß an Zärtlichkeit. Und das ist die zweite große Stärke dieses Films. (Matthias Pfeiffer)

Samstag, 24.6., 21 Uhr, City und Sonntag, 25.6., 14 Uhr, HFF Kino

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