Bunte freie Szene am Bosporus
Istanbul ist heuer neben Essen und Pécs die Kulturhauptstadt Europas. Mit dem Kunstprojekt „munich-istanbul 2010“ ist die hiesige Akademie der Bildenden Künste an dem Spektakel beteiligt
Im Vergleich zur New Yorker oder Berliner Kunstszene galt der türkische Kunstbetrieb noch vor wenigen Jahren als unterentwickelt. Mittlerweile wird Istanbul in einem Atemzug mit den angesagtesten Metropolen der Welt genannt und darf sich dieses Jahr Kulturhauptstadt Europas nennen.
Seinen Beitrag dazu bereitet der deutsch-türkische Kurator Mehmet Dayi nicht nur in der Stadt am Bosporus vor, sondern auch in München. Das interkulturelle Kunstprojekt „munich-istanbul 2010“ ist ein Künstleraustauschprogramm, das neben der UNESCO unter anderem auch von der Akademie der Bildenden Künste und der Allianz Kulturstiftung unterstützt wird. Von Juli bis September 2011 besuchen zehn Istanbuler Künstler München. Umgekehrt reisen zehn Münchner im Herbst dieses Jahr in die türkische Metropole. In Wohnungen im Lehel und im Istanbuler Stadtteil Beyoglu werden die Künstler in Mietwohnungen drei Wochen lang ihre Werke ausstellen. Damit wird der private Raum öffentlich gemacht – so der künstlerische Ansatz.
Nachholbedürfnis
Solch ein Projekt war vor wenigen Jahren in der Türkei noch kaum vorstellbar. Bis in die 90er Jahre hinein gab es keinerlei öffentliche Kunst, die meisten Bilder wirkten wie Werke à la Franz von Stuck, Cézanne, Kandinsky, nur mit türkischen Motiven. Grund dafür war die fehlende Tradition der realistischen Malerei im Osmanischen Reich.
Erst als die Türkei angefangen hatte, zunehmend internationales Kapital ins Land zu lassen, begann sich eine freie, globalisierte Kunstszene zu entwickeln. Seitdem werden nicht mehr nationale Wahrheiten verbreitet, sondern individuelle Erfahrungen verarbeitet. Neben der bunten Galerieszene, die seither enstanden ist, wurden etwa ein Dutzend zeitgenössischer Museen gegründet. Das bekannteste ist das vor fünf Jahren eröffnete „Istanbul Modern“ unweit der berühmten Galata-Brücke, direkt am Bosporus gelegen. Vom Museumscafé aus kann man durch den Dunst der Großstadt noch die Minarette der Blauen Moschee erahnen.
Von einer Elite für eine Elite
In einer ehemaligen Lagerhalle auf zwei Stockwerken finden sich Werke vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die aktuelle Ausstellung „From Traditional to Contemporary“ zeigt auch Stücke von Balkan Naci Islimyeli, der die Situation der türkischen Kunst mit einer Foto-Collage treffend formuliert. Der „Beweis für den 300-jährigen Schlaf der Künstler“ zeigt vollbärtige Männer in weißen Leinengewändern, die wie Steinzeitmenschen in einer Höhle schlummern. Noch bis Ende Mai wird die Werkschau des Künstlers zu sehen sein.
Vermutlich werden auch die nachfolgenden Ausstellungen mit hochkarätigen Künstlern besetzt sein, denn das „Istanbul Modern“ wird hauptsächlich von privaten Sponsoren wie der Industriellenfamilie Eczacibasi finanziert – wie die meisten der neugegründeten zeitgenössischen Museen.
Obwohl die kulturelle Landschaft sich wie nie zuvor in eine progressive Richtung entwickelt hat, werfen Kritiker vor allem der Regierung vor, die Kunst noch nicht genügend zu fördern. Es entstehe „eine türkische Kunst, finanziert von der Elite für die Elite“, denn gerade einmal 0,3 Prozent des Etats gehen an die Kultur.
Nadja Mayer
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