Zucker und Karies: "Strawinsky in Paris" im Gärtnerplatztheater

Man musste lange warten auf diese einzige Uraufführung des Balletts am Gärtnerplatztheater in der nun bereits zu Ende gehenden Spielzeit. Doch der Zweiteiler "Strawinsky in Paris" geht ab wie eine Konfettirakete. Gespickt mit Verweisen auch an die Schattenseiten des Lebens ist ein Cocktail aus Emotionen herausgekommen, den die Gastchoreografen Jeroen Verbruggen und Marco Goecke dem Publikum hier offerieren - choreografisch aneinandergeschmiegt wie das Gegensätze vereinende Yin-und-Yang-Symbol.
Sobald sich der Vorhang hebt, wird es - musikalisch wie tänzerisch - anspruchsvoll. Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz, geleitet von Michael Brandstätter, spielt zu Beginn jazzig-beschwingt George Gershwins "An American in Paris". Für Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" in der platzbedingt ausgedünnten Orchesterfassung von Jonathan McPhee ernten die im Graben partiell überforderten Instrumentalisten hingegen zu Recht eine kurze Buhsalve. Dabei verlangt Goeckes subtile, vom Ritus einer Gemeinschaft völlig ins Innere verlegte Interpretation nach jener unerbittlichen Schärfe, die bei der Uraufführung im Jahr 1913 noch einen Skandal verursachte.
Gershwins Tondichtung entstand dagegen 1928, als der amerikanische Komponist Station an der Seine machte und alles, was die französische Metropole an Flair, Hektik, Gefühlen und Begegnungen für ihn bereithielt, in sein Musikstück hineinpackte. Vom ersten Augenblick an hält dieser spezifische Gershwin-Sound als pures Lebensgefühl erst einen Tänzer, dann das Ensemble fast permanent auf Trab.
Anspielungen auf Vincente Minnelli
Den Titel "Ein Amerikaner in Paris“ übernahm der Regisseur Vincente Minnelli mitsamt Gershwins furioser Tanzsuite 1951 für seinen Musicalfilm. Legendär der Schluss, wenn Gene Kelly mit Leslie Caron den Vier-Jahreszeiten-Brunnen tanzend umkreist.

Darauf bezieht sich Verbruggen in seiner mit filigranen Bühnenelementen (Natalia Kitamikado) bis hin zu leuchtenden Kitscheffekten ausgestatteten Choreografie. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Liebesgeschichte der Filmfigur wird nicht nacherzählt. Vielmehr scheint Verbruggen Gene Kellys athletischen Tanzstil inspiriert zu haben, der am Anfang des revuehaften Stücks zitiert wird: motorisch mitreißend durch die rosarote Brille einer verklärenden Rückschau.
Alle Tänzerinnen und Tänzer tragen schicke Anzüge mit Sonnenhüten, stilistisch an Zeit und Set des Films angelehnt. Schnell entwickelt sich eine traumhafte Dynamik, deren pinkfarbene Zuckerwatten-Illusion von vier Sätzen aus Aaron Coplands "Billy the Kid“-Suite konterkarierend unterbrochen wird.

Choreografisch ins Zentrum tritt dazu zeitgenössisch explosiv ein von Verbruggen auf dem Programmzettel als Jerry (Matthew Jared Perko) und dessen zwei Seelen (Anima: Ethan Ribeiro und Micaela Romano Serrano mit Blumen-Bouquets in ihren Korsagen an der Brust) ausgewiesenes Trio. Als Elysianer (Les Élysiens) werden alle restlichen Tänzer bezeichnet, denen Kostümbildner Emmanuel Maria später mit aufgenähten Blumen versehene Outfits verpasst, die optisch eher irritieren als betören.

Seine sich um den "Abschied von Erinnerungen und einer Version von uns selbst" - so der Choreograf - kreisende Gershwin-Hommage hat Verbruggen sinnhaft in "Farewell in Paris" umbenannt. Blumen fallen von der Decke, wiederholt tauchen zwei Schirme auf und Jerrys Seelen-Zwillinge lachen sich auf zwei Schaukelpferdgestellen frei, während der Protagonist amerikanisch-lässig wieder als Beobachter beiseitetritt.
Persönlich, nachdenklich, neu
Gleicht Verbruggens Lebewohl-Sagen einer Bonboniere mit Kariesalarm, so führt Marco Goecke die Zuschauer wesentlich düster gehaltenen zweiten Teil auf einen Parcours existenzieller Befindlichkeiten. Auch dieses Stück führt ein Tänzer an. Weitere reihen sich hinter ihm auf und verschmelzen zu emotionalen Facetten dieses Einzelnen. Wer Täter, wer Opfer ist - und ob es sich dabei überhaupt um zwei verschiedene Personen handelt -, vermag nur das Bauchgefühl zu entscheiden.
Immer wieder schieben sich unterschiedlich miteinander interagierende Paare ins Bild. Im Kollektiv formen Hände geschwätzige Plappermäuler. Unter einer Glühbirne schleudert ein Tänzer heftig seine offenen Haare herum. Dann kommt durch den Ausruf wortwörtlich die Angst mit ins Spiel.

Ein kurzes Duett suggeriert Sicherheit. Plötzlich prescht Alexander Hille ganz in schwarz mit Federn an den Armen und um den Hals (Kostüme: Marvin Ott) - wie ein Nachtmahr aus einem Füssli-Gemälde - auf die beiden anderen Tänzer zu. Wenig später rupft sich Hille selbst Federn seines Kostüms aus.
Goeckes Blick auf Strawinskys "Sacre" ist persönlich, nachdenklich und neu. Auf ein Nacherzählen verzichtet er ebenso wie auf einen finalen Opfertod. Sein Ansatz scheint vielmehr, einem Täterprofil nachzuspüren, das zugleich das eines Opfers sein kann.

"Sacre" wird auf diese Weise zu einer Doppelrolle für jedermann. Die jeweils auslösenden Momente aufzudecken - darauf kommt es Goecke an. Mal schwingt auch Sehnsucht nach Verständnis mit, wenn sich zwei Protagonisten ineinander verklammern oder über die Wangen streichen. Nicht nur Furcht führt zu Verletzlichkeit.
Nach einem Solo von David Valencia mit transparenter Dauergrinse-Spange gipfelt der Abend in einem offenen Schluss. Die Welt ist eben schauerlich.
Wieder am 19., 23., 25., 27. und 31. Juli. Karten unterwww.gaertnerplatztheater.de