"Wir sind nur das Salatblatt", sagt Komponist Hauke Berheide

München - In Heinrich von Kleists „Penthesilea“ berichten Boten vom Krieg. Oder jemand schaut über eine Mauer auf das Geschehen. Der Komponist Heike Berheide hat seine Oper nach Kleists Drama deshalb „Mauerschau“ genannt. Sie wird heute Abend als zweite Premiere der Münchner Opernfestspiele in der Reithalle uraufgeführt.
AZ: Herr Berheide, ich leide noch an den Spätfolgen der Münchner Biennale für Neues Musiktheater. Wird Ihre Oper mich heilen?
HAUKE BERHEIDE: Es gibt unglaublich viele schlechte neue Opern. Man darf nicht einen Komponisten drei Jahre vor sich hinschreiben lassen, um dann festzustellen, dass seine Partitur untheatralisch ist. Leider wird im Betrieb jedes Bühnenbild besser betreut als eine Uraufführung.
Wie lässt sich das verhindern?
Ein Hausmeister der Bayerischen Staatsoper hat unendlich mehr Ahnung von Theater als ich. Aber diese Kompetenz wird nicht immer abgerufen. Eine Uraufführung muss von Anfang an dramaturgisch betreut werden. Wir lernen an der Musikhochschule, wie ein Terzflageolett auf der Geige klingt. Aber nicht, was die Szene braucht. Das erfährt man nur durch eigenes Lernen. Und durch drei schlechte Opern.
Die Festspielwerkstatt der Staatsoper ist ein Ort, an dem man auch mal was ausprobieren darf und wo scheitern nicht verboten ist.
Ich finde das toll. Aber die Bayerische Staatsoper hat eine Repertoirelücke von 80 Jahren. Das ist ein Skandal. Die jüngste Vergangenheit des Musiktheaters fehlt. Und wir kommen jetzt als Salatblatt oben drauf.
Immerhin: Es gab vor kurzem Zimmermanns „Die Soldaten“.
Wenn man die Oper als Kunstform ernst nimmt, muss man vermehrt Musik der Gegenwart spielen, statt alte Werke durch Regie zu retten. Große Häuser wie die Bayerische Staatsoper werden nicht öffentlich bezuschusst, um nur teure Pralinées zu produzieren. Wie kann sich das Publikum über neue Werke eine Meinung bilden, wenn Opern von Aribert Reimann, Hans Werner Henze oder Benjamin Britten nicht auf dem Spielplan stehen? Wo bleiben die späten Werke von Carl Orff, der auf seine Weise krasses Musiktheater gemacht hat?
Warum haben Sie sich den Penthesilea-Stoff vorgenommen. Kleists Drama ist ein harter Brocken.
Meine Librettistin Amy Stebbins und ich hatten bei der Krim-Krise und im Syrien-Konflikt das Gefühl, man hat überhaupt nicht die Chance, sich zu informieren, weil niemand weiß, was wirklich vor sich geht. Kleists „Penthesilea“-Stoff versucht über den Krieg zu sprechen, ohne ihn sichtbar zu machen.
Johann Wolfgang von Goethe hat das als „unsichtbares Theater“ geschmäht.
Uns scheint es aber das Interessante zu sein. Die Figuren versuchen sich ständig, einen Überblick zu verschaffen. Sie scheitern daran grandios, unter anderem, weil sie hinters Licht geführt werden. Das war das Spannungsfeld, das uns interessiert hat.
Warum haben Sie Achill und Penthesilea verdreifacht?
Ich weiß, die Idee ist nicht neu. Hier bot es sich an, weil es mir um eine eher assoziative Annäherung an den Stoff geht. Die mythologische Vorlage hat bereits mehrere Varianten: Achill verliebt sich, als er der toten Penthesilea den Helm abnimmt. Dann vergeht er sich an ihr. Oder er bestattet sie. Kleist hat gegenüber dem Mythos die Geschlechterrollen vertauscht.
Muss man dafür nicht den Text verstehen? Ist der Stoff deshalb nicht als Oper heikel?
Das Sich-Verlieren in einer Unübersichtlichkeit, das Suchen nach Orientierung, wo es keinen Halt gibt, das scheint mir als Bühnensituation attraktiv. Ich bekomme eher ein schlechtes Gewissen, wenn wir über Krieg sprechen. Weder ich, meine Textdichterin, noch meine Hauptdarsteller haben diese Situation erlebt. Nur Hildegard Schmahl ist als Kind geflohen. Aber ich weiß nicht, ob sie sich daran noch erinnert.
Wie können wir trotzdem darüber sprechen?
Musik ist eine körperliche Kunst, mit der ich situationsunabhängig über Gewalt und die Bedrohung sprechen kann. Außerdem gibt es unsere mediale Erfahrung mit dem Krieg. Über die mythologische Ebene des Penthesilea-Stoffs kamen wir sehr schnell zur Krim. Der erste Krimkrieg von 1853 bis 1856 war der erste moderne Informationskrieg. Über den Telegrafen wurde in Echtzeit berichtet, und die Politiker haben sich auf diesem Weg ständig in die Entscheidung der Generäle eingemischt. Auch das ist eine Mauerschau.
Wurden die Informationen damals schon manipuliert?
Es gibt ein berühmtes Foto von Roger Fenton: „Valley of Death“ mit herumliegenden Kanonenkugeln. Vor kurzem hat man ein zweites Foto gefunden. Wegen des Schattenwurfs kann man erkennen, dass es früher aufgenommen wurde. Da liegen die Kugeln noch nicht auf dem Weg. Alles spricht dafür, dass der Fotograf die Realität nach seiner Vorstellung manipuliert hat.
Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst, heißt es.
Mir geht es dabei allerdings weniger um eine Medienkritik. Sondern um die Einsicht, dass es keine Möglichkeit gibt, die Wahrheit objektiv zu vermitteln.
Premiere heute, 20 Uhr, Reithalle, Heßstr. 123, ausverkauft. Wieder am 30. 6., 1., 3. Juli, Karten zu 24 Euro, Telefon 21 85 19 20