Wiebke Puls in "Als lebten wir in einem barmherzigen Land"

Komik ist kein Heilmittel für alles - eher ein Schmerzmittel", heißt es einmal im Roman von A.L. Kennedy. Auf der Bühne der Kammerspiele sagt ihn Wiebke Puls, die zu diesem Zeitpunkt als Grundschullehrerin Anna schon einiges durchgemacht hat. Es könnte das Motto sein dieses Abends, der zum Weinen ist und zum Lachen und das alles in ein und demselben Moment.
Kennedys Roman "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" spielt im England des Corona-Lockdowns und blickt von dort aus zurück in die komplizierte Geschichte von Anna und Buster. Die eine, esoterisch angehauchte Grundschullehrerin, die den Glauben an das Gute, den sie ihren Schülern vermitteln will, zwar selbst längst verloren hat, sich aber dennoch an die Vorstellung klammert, es gebe so etwas wie Barmherzigkeit.

In der Eichhörnchen-Höhle
Wiebke Puls trägt einen absurd-hässlichen Webpelz-Overall und verkriecht sich wie ein Eichhörnchen in dem überdimensionierten Weidenkorb-Gebilde voller Kuscheldecken, das ihr als Höhle dient. Der andere, Buster, unterwanderte einst als verdeckter Ermittler Annas politisch engagierte Straßentheatergruppe "Unrule OrKestrA" und arbeitete später als Auftragskiller. Jahrzehnte später - in der Gegenwart der Erzählung - legt er Anna einen Umschlag mit seiner Lebensbeichte vor die Tür. In der Hoffnung auf Vergebung, auf ihre Barmherzigkeit.
Buster taucht wieder auf in Annas Leben, reißt sie aus ihrer Eichhörnchen-Höhle zurück in die Abgründe der Vergangenheit. Während sie sich zu erinnern beginnt, taucht er, das Chamäleon, in immer neuen Varianten seiner selbst in einer Plexiglas-Röhre auf, eine Art überdimensioniertes Reagenzglas, Versuchslabor des menschlichen Lebens. Edmund Telgenkämper kommt mal ganz schnieke daher, mal prollig und mal schleimig.

Verwandlung einer Frau
Die Kinder in der Schule will Anna vor solchen wie ihm warnen. Sie erzählt ihnen die Geschichte vom Rumpelstilzchen - und Telgenkämper verwandelt sich in seiner Röhre in den fiesen, frauenverachtenden Kobold, der verführt, verwirrt, verletzt, lechzt, giert und tobt vor Wut. Ein Musterexemplar eines "Stilzchens", eines grausamen Mannes. Lange bevor Telgenkämper an diesem Abend sein erstes Wort sagt, zeigt er, was er nonverbal drauf hat. Der Name Buster wird ihm zum Programm, zum Anlass für allerlei wunderbare Buster-Keaton-Hommage-Pantomime-Nummern.
Wiebke Puls verwandelt sich im Laufe der zwei Stunden von der etwas nervigen Öko-Lehrerin in eine vom Leben und den Männern gezeichnete Frau. Irgendwann am Ende steht sie auf einem Hocker an der Rampe, erzählt eine Geschichte, die sie eigentlich nie erzählt.
Wie sie in ihrem ersten Semester an der Uni war, wie sie sich "behaglich und frei" fühlte und dachte, sie könne "eine glückliche, sexy Person" sein. Wie ein Mann sie überfiel und missbrauchte. Wie er die "Nichtexistenz" auf ihre Stirn hauchte, ihr das Vertrauen in das Glück nahm: "Jedes Stilzchen auf der Welt kann mich erkennen, kann sehen, was mir passiert ist, meine Schande, und sie wieder und wieder geschehen lassen. Immer wieder. Immer dasselbe."
Ein Dreamteam
Strunz hat viel gekürzt aus dem 460-Seiten-Roman, die ausführlichen Beschreibungen des Online-Schulunterrichts im Lockdown zum Beispiel und sehr viel England-Spezifisches, Lokalkolorit, Brexit und Co. Sie konzentriert sich auf die beiden Figuren, auf Anna und Buster. Und auf Wiebke Puls und Edmund Telgenkämper, die von einer Rolle in die nächste springen, sich manchmal so schnell verwandeln, dass es einen schwindelt.
Ob sie als korrupter Politiker und Spitzel auf illegalen Lockdown-Parties koksen oder ob sie ihn in die Kunst des Tötens einweist: Es wirkt, als hätten diese beiden nur darauf gewartet, diesen Abend spielen zu dürfen, ihn gemeinsam spielen zu dürfen, in ihrer Kunst herausgefordert zu werden.

Zu sagen, sie sind ein Dreamteam, ist nicht übertrieben. Was sie auf der Vorderbühne des Schauspielhauses abliefern, ist nicht weniger als brillant. Ein Abend reinen Schauspielglücks. Traurig, komisch, bitter, voller Lust, Witz und Schmerz. Am Rande der Bühne sitzt der Musiker Peter Pichler an seinem Trautonium, einem faszinierenden elektronischen Instrument, auf dem er sphärische Töne und Melodien erzeugt, die allein einen Besuch dieses Abends rechtfertigen würden.
"Manche Menschen haben kein Glück. Darum sollte es Barmherzigkeit geben", sagt Anna einmal. Dass der naive Glaube an diese auch einfach nur eine Verlängerung des Leidens bedeuten kann, ist ihr wohl bewusst. Ganz zu Beginn erzählt sie von jenem Experiment mit Mäusen in wassergefüllten Röhrchen, die, nachdem sie einmal gerettet wurden, umso länger vergeblich gegen das Ertrinken anstrampeln. In der naiven Hoffnung auf Rettung. Nein, das hier ist kein plattes Plädoyer für mehr Mitgefühl, sondern eine Bestandsaufnahme menschlicher Abgründe. Das Ideal ist bekannt. Ihm gerecht zu werden, bleibt eine Herausforderung. Anna will sie annehmen: "Ich versuche, so zu leben, als lebten wir in einem barmherzigen Land."
Mit diesen Worten endet der Text. Dann singen die beiden "A Rainy Night in Soho" von The Pogues. Vielleicht gibt es ja doch einen Funken Hoffnung?
Kammerspiele, wieder am 31. Januar,, 4. und 17. Februar