Wie Blitze durch den Kopf
Spricht man von König, werden Erinnerungen wach. Bei André Jung liegen im Gedächtnis noch Spuren einer Inszenierung von 1987. Da spielte er Edmund in einer „Lear“-Inszenierung am Züricher Schauspielhaus. Edmund, der uneheliche Sohn des Grafen Gloucester, dessen Intrigen in den Tod führen. Er habe damals etwas übers Lügen auf der Bühne gelernt, meint Jung.
Es hat über 20 Jahre gedauert, bis er auf der anderen Seite der Lüge steht. Nun spielt er den König, der zu Beginn von Shakespeares Stück sein Vermächtnis an seine drei Töchter verteilen will und zwischen Ehrlichkeit und Schmeichelei nicht zu unterscheiden weiß.
Den Edmund spielt in Johan Simons Inszenierung Stefan Hunstein. Er ist der Einzige, der auch 1992 in den Kammerspielen dabei war, bei Dieter Dorns legendärem „Lear“, der im Gedächtnis vieler Münchner sitzt. Damals spielte Hunstein Edmunds Bruder Edgar, Thomas Holzmann war der Gloucester und den König spielte der 72-jährige Rolf Boysen, der die Kleider fallen ließ, als nackter König im Sturm.
Er habe diese Inszenierung leider nicht gesehen, sagt André Jung. Vor Boysen habe er den höchsten Respekt. „Mich würde interessieren, wie er das gemacht hat. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Boysen war kein Greis, aber zehn Jahre älter. Das ist doch ein Kraftunterschied.“ Das Tolle am Theater sei ja auch, so Jung, der im Dezember 60 Jahre alt wird, dass es keine Remakes gebe, sondern immer alles neu sei: „Selbst wenn Dorn das Stück heute nochmal inszenierte, würde es doch anders aussehen.“
Kammerspiele-Intendant Johan Simons sieht in dem Stück weniger ein Königs- als ein Großbauerndrama. Einen kruden, archaischen Ton schlage die Inszenierung daher an, erzählt Jung. Zu Beginn platziert Simons fünf Schweine auf die Bühne von Bert Neumann. Ein Veterinär habe gerade wieder die Proben besucht und erneut bestätigt, dass es den Tieren blendend gehe, so Jung. „Die Schweine dürfen auf der Bühne machen, was sie wollen. Sie haben überall zu fressen. Und wenn ein Schwein von A nach B will, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als es zu lassen.“
Schweine und Menschen – es gehe beim „Lear“ eben nicht nur um Liebe und Verrat, sondern um die Kreatur an sich. Von seinen beiden älteren Töchtern wird Lear schnurstracks seiner Macht entkleidet. Mit den verbliebenen Treuen, darunter dem von Thomas Schmauser gespielten Narren, irrt er durch die Heide, dem Irrsinn verfallen. „Ja, verfällt er dem Irrsinn oder der Weisheit?“, erwidert Jung. „Ein Wegtreten oder In-Sich-Eintreten ist es auf jeden Fall. Aber was daran wahnsinnig ist, weiß ich nicht. Wie Lear gleich zu Beginn des Stücks sein Reich verteilt, wie schnell er seine jüngste Tochter Cordelia, seinen besten Freund verbannt, da würde ich sagen: wahnsinnig.“
Jungs Tochter Marie spielt Cordelia, was eine berufliche Konstellation sei, die sich nun mal ergeben habe: „Sie ist seit fünf Jahren Schauspielerin und wurde nicht wegen mir engagiert.“ Man stehe letztlich mit allen Kollegen in irgendeiner Beziehung, hege Sympathien oder nicht. Aber es sei etwas anderes, wenn Lear seine Tochter verbannt „und die eigene Tochter guckt einen mit großen Augen an“.
Nach dem Lear wird André Jung gleich wieder mit Marie proben, für „Bauern sterben“ von Franz Xaver Kroetz. Eine große Pause wird es für beide also nicht geben. Anstrengend muss die letzte Zeit gewesen sein: Bei Dorn betrug die Probenzeit neun Monate, manche sagen, ein Jahr. Bei Simons waren es sieben bis acht Wochen. Eine andere Energie, ein anderer Lear.
Johan Simons ließ sich von Franz Liszts Klavierstück „La notte“ für die Stimmung inspirieren. Er schaute sich mit seinen Schauspielern zur Vorbereitung eine Dokumentation über eine Familie in Sibirien an, um deren Physis zu studieren. Um Körperlichkeit geht es Simons, auch um die Körperlichkeit der Sprache. Shakespeares Blankvers sei nicht leicht, erzählt André Jung. Er verzeihe keine Ungenauigkeit, „sonst hakt es sofort im Rhythmus“.
Um sechs Uhr morgens ist Jung in den letzten Wochen aufgestanden. Wenn er keine Vorführung hatte, ging es um halb neun abends ins Bett, „weil ich weiß, dass ich in der Nacht wieder aufwache. Es schießt nur so wie Blitze durch den Kopf.“ Im Gedächtnis einprägen wird sich dieser Lear bei Jung auf jeden Fall. Und weil ein großer Schauspieler wie er nicht nur Schwein hat, mit ziemlicher Sicherheit auch bei uns.
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