Wer bin ich? Und wie viele? „Persona“ im Volkstheater

Ein kleines Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und rotem Kleidchen tritt auf die Bühne, setzt sich vor den Vorhang und Kopfhörer auf. Aus dem Off fragt eine Stimme: „Hausfrauenrolle, Kolleginnenrolle, Mutterrolle, Geliebtenrolle, welche ist die schlimmste? Was hat dich am meisten gequält?“ Und: „Wo bist du gescheitert?“
Die junge Regisseurin Sophie Glaser hat am Volkstheater Ingmar Bergmans Film „Persona“ aus dem Jahr 1966 adaptiert. Und sie stellt gleich zu Beginn die Fragen, um die dieses Psycho-Kammerspiel kreist: Wer sind wir und wie viele? Wie werden wir gesehen? Und wie sehen wir uns selbst? Welche Rollen spielen wir? Welche wählen wir? Und welche werden uns aufgezwungen?
Bergmans Film stellt diese Fragen anhand zweier Frauen, die ein Zufall gemeinsam in ein einsames Haus am Meer spült. Die Schauspielerin Elisabet, die während einer Vorstellung als Elektra plötzlich und dauerhaft verstummte, und die Krankenschwester Alma, die sich um sie und ihre Regeneration kümmern soll. Eine physische oder psychische Erkrankung wurde bei Elisabet zuvor ausgeschlossen. Sie hat einfach beschlossen, still zu werden. Sich von allen Erwartungen abzuschotten, keine Rolle mehr zu spielen. Ein reizvoller Gedanke irgendwie.
Ein allzu perfektes Wohnambiente
Doch schon im Prolog wird an diesem Abend klargestellt: „Die Realität macht einem das aber verdammt sauer.“ Das Mädchen zieht nun den dünnen Stoffvorhang weg, der Blick fällt auf Wohn-Module im stylisch-roten skandinavischen Retro-Design vor einem Wolken-Himmel, der anmutet wie ein Gemälde von René Magritte.
Bühnenbildnerin Nadin Schumacher hat ein bis ins kleinste Detail durchdesigntes, aber auch ziemlich steriles Wohnambiente entworfen, in dem bis zur Pfeffermühle und dem Schneidebrett alles aufeinander abgestimmt ist. Nur: so recht gemütlich will es nicht werden, und das passt famos zu dieser unfreiwilligen Wohngemeinschaft auf Zeit.

Die Kostüme von Maja Beyer sind in rosa-fliederfarbenen Pastelltönen gehalten und orientieren sich an den 1960er Jahren. Wo die Farben die gleichen sind, unterscheiden sich die Schnitte: Lena Brückner trägt als Alma einen Overall, Ruth Bohsung als Elisabet ein Kleid. Zwei, die zusammengehören und auch wieder nicht, die verbunden sind durch äußere Umstände. Oder: aneinander gefesselt.
Zweifellos hat Sophie Glaser einen Hang zum Perfektionismus. Mit minutiöser Präzision startet sie mit ihrem komplett überzeugenden Ensemble ein Psychodrama, das die scheinbare Harmlosigkeit mit einem gruseligen Subtext unterlegt und ganz langsam Gewissheiten und Machtverhältnisse verschiebt, das vermeintlich Offensichtliche aus den Angeln hebelt.
Den Figuren werden zwei Doubles zur Seite gestellt
Wo zu Beginn einfach diese beiden Frauen sind, die eine (Alma) das Schweigen der anderen (Elisabet) füllt, indem sie ihr immer mehr von ihrem Leben und Fühlen erzählt, ihr auch Geheimnisse anvertraut, verschiebt sich immer mehr die Gewissheit, wer hier eigentlich das Sagen hat. Ohne ein Wort zu sagen, lenkt Elisabet zunehmend das Geschehen.

Ruth Bohsung verströmt in ihrer Verstummtheit eine unheimliche Präsenz, reagiert, kommentiert und verunsichert mit ihren intensiven Blicken. Zunehmend tut Elisabet Dinge, die sie anschließend leugnet, verunsichert Alma in ihrer Wahrnehmung der Realität. Gaslighting nennt man das, wenn eine Person so manipuliert wird, dass sie an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln beginnt.
Sophie Glaser belässt es nicht bei den beiden, sie stellt ihnen zwei Doubles zur Seite: Nils Karsten und Nine Noé Stehlin verkörpern so etwas wie das personifizierte Unterbewusste der beiden und übernehmen zunehmend Raum und Kontrolle, mischen sich immer stärker ins Geschehen ein.
In stummen, mit gespenstischen Geräuschen unterlegten Szenen liefern sie sich auch mal eine handfeste Schlägerei, wo die Gewalt auf der realen Ebene rein psychisch bleibt. Ihre Kostüme sind Gummi-Varianten der Originale, im Gesicht tragen sie glänzende Masken, die jede Mimik verbergen. Eine andere Art, sich Zuschreibungen zu entziehen und unsichtbar (oder unfassbar) zu machen.

Dieser Abend ist hochspannend und verstörend. Subtil entblättert Glaser Facetten und Perspektiven ihrer Figuren, lässt die anfangs vermeintlich klare Rollenaufteilung und mit ihr die Grenzen zwischen diesen beiden Frauen verschwimmen. Sobald sich ein Moment scheinbarer Wahrhaftigkeit auftut, ist da auch wieder die Frage: Ist das nun die echte Person? Oder eine Rolle? Ist das ehrlich empfunden oder nur gut gespielt? Das Ergebnis: ein form- und bildstarker Theater-Psychothriller, der unbedingt sehenswert ist.
Wieder am 30. 9. sowie am 2., 12., 29. und 30. 10. auf der Bühne 2 des Volkstheaters. Karten unter muenchner-volkstheater.de