Weniger ist manchmal mehr: Mozarts "Zaide" in Salzburg

Die Sopran-Arie "Ruhe sanft" ist eine der eingängigsten Mozart-Melodien. Sie stammt aus der nie zu Ende komponierten Oper "Zaide", deren Handlung rätselhaft bleibt, weil die gesprochenen Texte verloren sind. Erkennbar ist aber, dass es sich um eine Entführung aus einem Serail handelt, weshalb das Fragment üblicherweise als Vorstufe zu diesem Singspiel verstanden wird.
In der dreimal bei den Salzburger Festspielen gezeigten Version des Dirigenten Raphaël Pichon spielt diese Beziehung keine Rolle. Hier beruhigt Zaide nicht ihren Geliebten Gomatz, sondern ihr ungeborenes Kind. Diese Situation ist eine Erfindung des Dramatikers Wajdi Mouawad: Sie überzeugt als Verallgemeinerung der Handlung jenseits der Türkenmode des späten 18. Jahrhunderts und passt bestens zum musikalischen Schmerz, den Mozart im Mittelteils dieser Arie komponiert hat.
Die Version in der Felsenreitschule erzählt von Persada, die in einem Foltergefängnis geboren wurde. Sie versucht die Geschichte ihrer Eltern zu rekonstruieren. Das Politische ist jedoch ins Allgemein-Menschliche verlagert, und weil deutsch und italienisch gesprochen wird, spielen die Konflikte im Nahen Osten keine Rolle.
Mozarts "Zaide oder der Weg des Lichts" in der Felsenreitschule: Singspiel mit geistlicher Musik
Das passt zur Musik, die anders als in der "Entführung", auf exotische Effekte verzichtet. Zusätzliches Material für seine Bühnenfassung gewann Pichon aus der etwa gleichzeitig mit "Zaide" entstandenen Kantate "Davide penitente", in der Mozart Teile seiner größten, aber nie fertiggestellten Messe in c-moll verarbeitet hat.

Ein Singspiel mit geistlicher Musik zu verbinden, mag auf den ersten Blick abwegig wirken. Aber Pichons Version überzeugt, weil die Arien aus "Zaide" primär der Opera seria und nicht der Opera buffa oder dem Singspiel verpflichtet sind. Und das ist wiederum eine Sphäre, die der geistlichen Musik nicht fremd ist. Außerdem wollten Pichon und Mouawad den Komponisten nicht als Psychologen und Menschenkenner vorstellen, sondern als Komponisten mit ethischem Anspruch.
Daher liegt, vor allem wegen der Chöre und des Gefängnisses als Schauplatz, eine Atmosphäre von "Fidelio" über der pausenlosen, knapp zweistündigen Aufführung. Auch das überzeugt, weil das hochdramatische Quartett mit dem Liebespaar, dem seine Menschlichkeit entdeckenden Wächter und dem Tyrannen auf frappierende Weise das Quartett "Er sterbe" zwischen Pizarro, Florestan, Leonore und Rocco aus Beethovens einziger Oper vorwegnimmt.
Gesungen wird absolut festspielwürdig. Sabine Devieilhe singt die Zaide eher instrumental und schlank. Das ist durchaus ein Gegensatz zur Musik, der die emotionale Wirkung aber ins Bewegende steigert.

Auch Lea Desandre verkörpert diesen von der Alten Musik her kommenden Stil vor allem in den geistlichen Nummern ungemein überzeugend. Als Gomatz und Soliman wirken Julian Prégardien und Daniel Behle mit: zwei herausragende Mozart-Tenöre unterschiedlicher Ausrichtung, der eine lyrisch, der andere dramatisch.
Dem seiner Leukämie entkommenen Bariton Johannes Martin Kränzle gelingt als Allazim das anrührende Porträt eines Mannes, der als Folterer im Gefängnis Schuld auf sich geladen hat und damit nur mit Mühe klarkommt. Ihm wurde der Melologo überlassen, ein vom Orchester begleiteter gesprochener Text - eine innovative Form, mit der Mozart hier experimentierte und auf die Beethoven in "Fidelio" ebenfalls zurückgegriffen hat.
Texte aus dem humanistischen Poesiealbum
Weil das Ensemble Pygmalion und der zugehörige Chor in einer für Originalklangverhältnisse großen Besetzung auftreten, steht die Musik in der eigentlich für Mozart weniger geeigneten Felsenreitschule sehr wohl im Mittelpunkt. Der junge, sehr frisch und transparent singende Chor verfügt über ein erstaunlich tragfähiges und expressives Piano.
Aus dem farbigen Klang des Orchesters treten die Bläser leuchtend hervor. Und der Dirigent ist ein Charismatiker ohne den trockenen Dogmatismus, der einem Mozart im historisch informierten Stil bisweilen verleiden kann.
Das alles wiederum passt ideal zu der weniger bekannten, aber erstklassigen geistlichen Musik, die Mozart von seiner eher strengen, dem Kontrapunkt und der musikalischen Vergangenheit verpflichteten Musik zeigt. Um ihre Größe vorzuführen, braucht es aber einen Dirigenten wie Pichon, der diesen Stil schätzt und dem nicht zufällig mit dem gleichen Ensemble bereits eine herausragende Aufnahme der "Matthäuspassion" gelungen ist.
Pichon ist es außerdem gelungen, seine Ideen in die passende Form zu gießen. Der Chor trägt schlichtes Schwarzweiß und bewegt sich in einer einfachen, aber wirkungsvollen Choreografie (Evelin Facchini) auf der rechten Hälfte der Bühne neben dem Orchester.

Dieser halbszenische, improvisiert wirkende Rahmen ist ein durchdachtes Konzept, das zum fragmentarischen Charakter der Werke passt und nie als Notlösung wirkt (Bühne, Licht und Kostüme: Eddy Garaudel).
Den Rahmen bildet Mozarts Adagio in C-Dur für Glasharmonika: ein Instrument, dessen fremder Klang zu jener Beschwörung von Erinnerung passt, die Mouawads Textfassung hervorhebt. In der reduzierten Form der Aufführung reicht dann der Sturz dieses Instruments aus einer der Felsenlogen, um die Atmosphäre des Gewalttätigen der Handlung unmissverständlich und schnörkellos zu betonen.
Vorbild: Konzeptalbum
Es hat schon viele Versuche gegeben, dieses Fragment aufführbar zu machen. Im Mozart-Jahr 2005 fügte die israelische Komponistin Chaya Czernowin der Handlung eine scheiternde nahöstliche Liebe als Kontrast hinzu. Dass nun der 1968 im Libanon geborene Mouawad für den Text gewonnen wurde, wirkt auf dem Papier wie ein forciertes Alternativprogramm, ohne es in seiner Ortlosigkeit tatsächlich zu sein.
Dass manche Passage nach humanistischem Poesiealbum klingt, ist wohl unvermeidlich, aber vor allem Kränzle versteht es, das hier gepredigte Ethos des Verzeihens authentisch zu transportieren.

Es ist löblich, dass Markus Hinterhäuser als künstlerischer Leiter der Festspiele weiter auf Pichon und seine Mozart-Sicht setzt, obwohl dessen von den Wiener Philharmonikern sanft sabotierte Einstudierung von "Le nozze di Figaro" vor zwei Jahren kein rauschender Erfolg war.
Aber vielleicht liegt das Talent dieses Dirigenten auch nicht beim gängigen Repertoire, sondern beim Besonderen und den aufregenden Wechselwirkungen, die Pichon in seinen Konzeptalben wie "Libertà! – Mozart et l’opéra", "Enfers" oder "Les Filles du Rhin" ausprobiert hat und nun in Salzburg auch auf die Bühne gebracht hat.
Die begeistert aufgenommene Aufführung stellt in ihrer Schlichtheit die szenischen Großproduktionen dieses Sommers in den Schatten. Auf ihrer musikalischen Augenhöhe befindet sich diese „Zaide oder Der Weg des Lichts“ ohnehin.
Noch einmal am 19. und 22. August um 20 Uhr in der Felsenreitschule, Restkarten. Ein Stream der Aufführung ab 24. August auf Arte Concert