Warum fährt niemand Fahrrad? "Don Giovanni" in der Reaktorhalle

Auf der Homepage ist zu lesen, die Aufführung lote "die Dimensionen der Täter-Opferbeziehungen, Co-Abhängigkeiten und Strukturen von Machtmissbrauch" aus. Das klingt nach der künstlerischen Aufarbeitung gewisser Vorfälle an der Münchner Hochschule für Musik und Theater, denen sich die Inszenierung von "Don Giovanni" in der Reaktorhalle aber verweigert. Was, vielleicht nicht zu Unrecht, durchaus Seufzer der Erleichterung auslösen kann, denn zum Schlüsseldrama taugt Mozart dann doch nicht.
Die Debatte um #MeToo & Co. bewahrte die Regisseurin Doris Heinrichsen aber davor, Donna Annas Verhältnis zur Titelfigur zu romantisieren, wie es lange üblich war. Sie wirkt von der versuchten Vergewaltigung geradezu traumatisiert, verehrt die Kreide-Umrisse der Leiche ihres Vaters fast zwanghaft und kultisch und schmiert die Worte "Vendetta" an die Wand. Zuletzt scheint alles darauf hinauszulaufen, als würde Anna selbst als wandelnde Statue auftreten und die Rache vollziehen. Aber darauf verzichtete die Regisseurin zugunsten einer viel schwächeren Lösung.
Auch die finale Versöhnung wirkt ein wenig aufgesetzt. Die eigentlich jedem Theatermenschen geläufige Regel von "Tschechows Gewehr" blieb unbeachtet: Bis zuletzt wartet der Zuschauer darauf, dass jemand das (versehentlich?) drei Stunden auf einer Galerie stehende Rennrad besteigt.
Ein qualitätvolles Ensemble
Aber eine Aufführung mit Bachelor- und Master-Studierenden ist nicht dazu da, die ultimative Deutung von Mozarts Oper mit allen Finessen zu präsentieren. Im Prinzip geht es darum, erste Bühnenerfahrungen in einer größeren Aufführung zu präsentieren, und zwar auch Studierende, die eventuell doch in Richtung Konzertgesang tendieren.

In dieser Hinsicht kann Beruhigendes vermeldet werden. Alle Beteiligten, allen voran Johannes Eder in der Titelpartie, haben eine starke Präsenz und eine große Spiel-Begabung. Die Stimmen der drei weiblichen Hauptrollen verfügten, Mozarts Anforderungen entsprechend, über ein abgestuftes dramatisches Potenzial. Maria van Hoofs Sopran als Elvira schien ein wenig dunkler zu sein als der von Anna Krihkeli (Anna). Aber auch Olga Surikova (Zerlina) präsentierte sich mit einer ausgesprochen emanzipierten dramatischen Stimme, was gut zur Aufführung passte, die musikalische Standesunterschiede nicht betonte.

Gleiches lässt sich über die Herren sagen: Tatsuki Sakamoto ist ein beweglicher Bassbuffo. Der Tenor Justus Rüll sang "Il mio tesoro" mit Geschmack, Johannes Domke wertete den Masetto mit starker Ausstrahlung zur Hauptrolle auf. Nur ein seriöser Bass scheint derzeit an der Musikhochschule zu fehlen: Baritonale Kraft, wie sie Luis Weidlich drauf hat, ist beim Komtur nur eine Notlösung.
Der Dirigent als Schwachpunkt
Die Rezitative wurden - nicht ganz auf der Höhe der Zeit - am Cembalo begleitet. Das Hochschulorchester saß im Bühnenhintergrund vor einer stilisierten nackten Frau. Aus seiner instrumentalen Frische wäre gewiss mehr Dramatik herauszuholen gewesen, als der wackere Giuseppe Montesano es wollte. Der hält Mozart leider für eine Art verdünnten Paisiello und bereitete die Studierenden auf eine Begleitung vor, die sie vor 30 Jahren in der sogenannten Provinz erwartete.

Da hätte man sich am liebsten einen Schnaps aus der bühnenbeherrschenden, aber leider unternutzen Bar "Casanova" (Szene: Jens Kühne) geholt, um ihn auf das Wohl und die Zukunft der jungen Sängerinnen und Sänger zu trinken. Und auf das der Hochschule, die alten Skandale endlich hinter sich zu lassen.
Wieder am 13., 14., 16., 17., 19 und 20. Mai in der Reaktorhalle, Luisenstraße 47a, Karten über Münchenticket