Von Boxsäcken und Puppen
Ein Boxsack ist ein Boxsack ist ein Boxsack. Oder könnte dieses Objekt doch für etwas anderes stehen? Inmitten der Bühne des HochX hängt eben ein solcher Boxsack. Ein offenbar gestählter Kickboxer probiert ein paar Kicks und Schläge daran aus. Zwei Männer treten danach von ihren Randpositionen auf und nehmen sich den Sack vor. Dabei hauen und treten sie so brachial zu, dass es nicht nach einem Training aussieht, sondern eher nach einem üblen Gewaltakt an einem Menschen.
Eine Zuschauerin in den vorderen Reihen beginnt zu lachen, kriegt sich nicht mehr ein. Irgendwann steht sie auf und beginnt zur lauten Musik, die die beiden Männer auflegen, an zu tanzen. Während sie hüftschwingend die zwei umkreist, machen sie mit kaltblütiger Ruhe und brutaler Kraft weiter: Sie schlagen den Sack mit einem Gürtel, peitschen ihn aus, bearbeiten ihn mit einem Holzknüppel. Die Frau gesellt sich irgendwann mit einem Elektroschocker dazu, hilft mit, als kochendes Wasser über den Boxsack gekippt wird. Ein Bügeleisen kommt zum Einsatz. Und so weiter.
Man geht ratlos
Nach vielleicht einer halben Stunde fasert die Performance aus: T-Shirts werden angeboten, keiner kauft sie. Nahtlos geht der Abend in ein Publikumsgespräch über, bei dem der südafrikanische Choreograph Sello Pesa behauptet, dass hinter dieser Schlacht keinerlei soziopolitische Absicht stecke. Es ging nur um ein Experiment: Wie sieht das aus, wenn man mal einen Boxsack verprügelt?
Vielleicht ging es ja auch um (weiße?) Gewalt an (schwarzen?) Menschen, vielleicht ja spezifisch um Gewalt an Frauen, aber Sello Pesa, Humphrey Maleka und die mitfolternde Hlengiwe Lushaba Madlala wollen am Ende keine Erklärungen abgeben, sondern beharren darauf, dass der Boxsack einfach nur ein Boxsack sei. Die Attitüde der Künstler, die ihr Werk nicht deuten wollen und suggerieren, dass das, was man in dem Objekt sieht, schon sehr viel über einen selbst aussagt, hat dabei selbst etwas Aggressives. Vielleicht stand der Boxsack ja auch stellvertretend für das Publikum? Man geht jedenfalls ratlos, ziemlich platt und gedanklich eher leer aus dieser Gewaltdemonstration.
Als verstörende Erfahrung fügt sich „Bag Beatings“ jedoch gut in das Performance-Puzzle ein, das sich auch bei dieser Spielart-Ausgabe nach und nach zusammensetzt, bis das Hirn vor Querverbindungen nur so brummt. Ein roter Faden der Gewalt zieht sich beispielsweise durch das Programm; die Frage der Vergangenheitsbewältigung wird immer wieder aufgeworfen, nicht nur in dem Stück „Congo“, in dem die Zeit der belgischen Kolonialherrschaft im Gebiet der heutigen zentralafrikanischen Republik kraftvoll und mit Wut im Bauch beleuchtet wird. Sondern auch in „Orest in Mossul“, wo die Orestie von Aischylos als Folie dient, um sich mit der Gewaltspirale im Nahen Osten auseinanderzusetzen.
Die Komplexität des Lebens
Während Muttermörder Orestes in der antiken Vorlage vor Gericht überraschend freigesprochen wird, können sich die jungen Iraker, die der Schweizer Regisseur Milo Rau im kriegszerstörten Mossul für seine filmisch-theatrale Nachstellung einsetzte, nicht zu einer Form von Vergebung durchringen. Stattdessen wollen sie über die inhaftierten IS-Kämpfer, die ihr Land verwüsteten und Mitmenschen ermordeten, zuletzt weder ein Todesurteil noch ein Gnadengebot aussprechen – es bleibt ungelöst.
Leichte Antworten gibt es nun mal nicht, Spielart führt vor allem in die Komplexität verschiedener Leben ein. In dem Theaterstück „Museum Of Lungs“, das in der Kammer 3 zweimal gezeigt wurde, erzählt die südafrikanische Autorin, Aktivistin, Wissenschaftlerin Stacy Hardy von ihrer Tuberkulose-Erkrankung, die jahrelang unentdeckt blieb. Acht Jahre lang lebte sie mit einem unbenannten Leiden in Südafrika, machte die Tour bei verschiedenen Ärzten und Krankenhäusern und erlebte dabei ein Gesundheitssystem, in dem Zynismus und Desinteresse gegenüber den PatientInnen vorherrscht.
Als deutlich definiertes Alter Ego hat sie eine Puppe bei sich, deren magnetisch zusammengehefteten Glieder sie nach Bedarf auseinandernimmt und zusammensetzt. So kann Ich-Erzählerin Hardy die innere Distanz zum eigenen Körper vor Augen führen, kann mit der Puppe als Spiegelbild und Gegenüber ihre Geschichte erzählen, aus Fragmenten ein performatives Ganzes machen. Begleitend dazu erzeugen Neo Muyanga (aus Soweto) und Nancy Mounir (aus Ägypten) mit Schlagwerk, Gitarre und dem Theremin die passende, zum Teil harmonische, zum Teil unruhig-geisterhafte Atmosphäre.
Hardy spannt den Bogen über ihre privaten Erfahrungen hinaus bis hin zu den historisch verbürgten Tuberkulose-Erkrankungen ausgebeuteter Minenarbeiter. Den Mix aus autobiographischem Bericht und musikalischem Figurentheater inszeniert die Ägypterin Laila Soliman mit gutem Blick für die Stärke der Teilnehmer, besonders auch für die Stärke des Textes, den Stacy Hardy selbst geschrieben hat. Eine Puppe ist hier ganz klar nicht nur eine Puppe. Was den Zugang doch ganz schön erleichtert.
Das Spielart-Festival geht an diesem Wochenende in die letzte (Box-)Runde. An verschiedenen Spielorten findet das Festival im Festival „New Frequencies“ statt, bei dem 15 Arbeiten junger Künstlerinnen und Künstler gezeigt werden.
Programm unter www.spielart.org
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