Vom Fegefeuer in den Himmel

Die Kammerspiele sind laut Kritikerumfrage von „Theater heute“ die Bühne des Jahres - und auch die Darsteller räumen ab. Berechtigt?
von  Michael Stadler

Hoppla! Vielleicht sieht man ja als Münchner Kritiker den Wald vor lauter Bäumen nicht. Gestern kam zumindest die Meldung, dass die Kammerspiele in der überregionalen Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater Heute“ prächtig abgeschnitten haben: Nicht nur, dass die besten Schauspieler (Sandra Hüller, Steven Scharf) und der beste Nachwuchsschauspieler (Risto Kübar) sich im Ensemble befinden, nein, das Haus in der Maximilianstraße kann sich jetzt auch Theater des Jahres 2013 nennen. Und da ist man doch erst mal überrascht.

Denn es gab ein paar Inszenierungen in der letzten Spielzeit, die nicht unbedingt als herausragend in Erinnerung blieben, zum Beispiel eine unterhaltsam breite, doch sehr in die Länge gehende Neuauflage von Frank Wedekinds „Franziska“ oder eine „König Lear“-Variante, bei der Johan Simons das hehre Königsdrama auf den Schmoderboden eines Bauernhofs brachte.

Von der Idee, anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Kammerspiele noch mal ein paar Stücke auszugraben, die für die Geschichte des Hauses maßgeblich waren, ist im Jahrbuch nicht einmal die Rede. Und man kann schon sagen, dass diese Idee nicht unbedingt zündete. Besonders Susanne Kennedys [/INI_3]Neuauflage von „Fegefeuer in Ingolstadt“, eine Playback-Show mit wenig Bewegung, schied die Geister und erntete bei der Premiere einen Buhsturm. Und doch: Genau diese Inszenierung brachte Kennedy den Titel Nachwuchsregisseurin des Jahres ein (und Lotte Goos wurde beste Nachwuchskostümbildnerin), vielleicht gerade darum, weil Kennedy mit ihrem strengen formalen Ansatz die einen vor den Kopf stieß, die anderen begeisterte.

Experimentierfreude zeichnet die Kammerspiele aus, keine Frage. Aber man fragt sich doch, ob die beim Berliner Theatertreffen überraschend umjubelte Inszenierung von Jelineks „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“ wirklich ein großer Wurf ist. Großartig sind darin auf jeden Fall die Spieler, allen voran Sandra Hüller, und auch an der Klasse von Steven Scharf, der auch mit seinem „Judas“-Solo wie in „Plattform“ begeisterte, gibt es keinen Zweifel. Was überregional wohl am meisten ins Gewicht fällt, ist die europäische Ausrichtung des Hauses, die Johan Simons seit Beginn seiner Intendanz anvisierte und die bereits zahlreiche Früchte trägt. Außerhalb von München mögen zudem die beiden Einladungen zum Theatertreffen, neben Jelinek insbesondere „Orpheus steigt herab“, allseits überzeugt haben (wobei immerhin neun der 44 an der Wahl beteiligten Kritiker in der Rubrik Theater der Saison „keines“ angaben).

In München darf und sollte man sich natürlich freuen, über den (2015 leider scheidenden) Intendanten Simons, sein Team, sein Ensemble. Darunter Wiebke Puls, die im „Theater Heute“-Jahrbuch von ihrem Schauspielerinnenleben so offenherzig, so erschreckend und herzzerreißend erzählt, dass man sie gerne auch noch ausgezeichnet gesehen hätte.

Jahrbuch 2013 von „Theater Heute“ (194 Seiten, 24.80 Euro)

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