Kritik

Überzeugender Titelheld, gutes Umfeld: Der neue "Don Giovanni" im Nationaltheater

Über den schroffen Mozart des Dirigenten Vladimir Jurowski kann man sich streiten, nicht aber über die herausragende Leistung des Baritons Konstantin Krimmel: Erste Eindrücke aus der ersten Premiere der Münchner Opernfestspiele
von  Robert Braunmüller
Konstantin Krimmel als Don Giovanni.
Konstantin Krimmel als Don Giovanni. © Geoffroy Schied

Wie das denn gehen möge, fragt sich der geneigte Besucher womöglich, nachdem er Kunde davon bekommen hat, die antike Unterweltsgöttin Proserpina würde in der Ouvertüre von Don Giovanni Besitz ergreifen und daraufhin in männlicher Gestalt seine Liebesabenteuer erleben. Aber der Zuschauer im Nationaltheater braucht kein Mythenlexikon. Alles wurde sehr didaktisch und unter Missachtung der alten Regel „Show, don’t tell“ von David Hermann inszeniert: Mit einem Höllenfeuervideo, wild gestikulierenden Tänzern und ganz viel projizierter Gebrauchsanweisung in Schriftform samt rotem Subtext in den Übertiteln.

Dazu lässt Vladimir Jurowski das Bayerische Staatsorchester in der Ouvertüre donnernd aufrauschen, so energisch, dass am Premierenabend die flammenden Bläserfiguren die nicht minder wichtigen Streicher fast völlig verzehren. Dann folgt eine völlig umgedrehte Eingangsszene: Anna flieht nicht vor Don Giovanni. Sondern die möchte ihn eigentlich im Schlafzimmer halten, und das sehr ausdrücklich, was die innere Proserpina entsetzt. Und der Komtur wird anschließend von Pluto erledigt, was Giovanni von jeder Schuld oder gar Tragik befreit.

Das funktioniert erstaunlich gut. Dann  donnert und feuert es noch ein paarmal, ehe sich die Grundidee vorläufig  verliert. Was folgt, ist sehr präzise, in die Gegenwart versetzten Paar-Psychologie, einschließlich eines realistischen Notarzteinsatzes. Auf Donna Anna lastet der Liebesverrat, und weil sie einerseits die Beziehung zum smarten, aber auch schwachen Ottavio dominiert, ihn andererseits aber auch nicht verlassen kann, verzweifelt der an ihrer Verweigerung. 

Gegenwärtige Paarbeziehungen

Giovanni Sala und Vera-Lotte Boecker spielen dieses komplexe, in Widersprüchen verstrickte Paar sehr überzeugend und auf eine Weise zeitlos heutig, wie es selten besser zu sehen war. Die Schärfen der sehr kalt-dramatischen Stimme der Sopranistin sind allerdings Geschmackssache. Sala ist ein sehr ordentlicher Ottavio, dessen nicht restlos koloratursichere Stimme in „Il mio tesoro“ vom nicht immer sehr sängerfreundlichen Dirigenten an ihre Grenzen getrieben wird, weil er die Arie konsequent als Bravournummer im Stil einer Opera Seria versteht. Was sie allerdings auch ist.

Vera-Lotte Boecker (Donna Anna) und Giovanni Sala (Don Ottavio) im ersten Akt.
Vera-Lotte Boecker (Donna Anna) und Giovanni Sala (Don Ottavio) im ersten Akt. © Geoffroy Schied

Die in jedem anderen Punkt außer ihrer Leidenschaft für Giovanni sehr selbstbewusste und emanzipierte Elvira  von Samantha Hankey hat danach einen exaltierten Auftritt in einem Standesamt, das von Jo Schramm in allerschönster Verwaltungsarchitektur auf die Bühne des Nationaltheater gebracht wurde. Die amerikanische Sopranistin ist eine intensive Darstellerin mit ebenfalls etwas scharfer Stimme. Es hat viel für sich, dass gegen jeden Fassungspurismus ihr „Mi tradi“ und Annas „Non mi dir“ zwei sehr unterschiedliche Porträts emotionaler Überspanntheit gegen Ende der Oper einander gegenüberstehen.

Der beste Don seit Jahrzehnten

Auf Don Giovanni kultiviert die Inszenierung einen eher restaurativen Blick. Das fällt nur deshalb kaum auf, weil Konstantin Krimmel es schafft, die männlichweibliche Kunstfigur dieser Inszenierung in einer Weise lebendig auf die Bühne zu stellen, dass man nur mit offenem Mund hören und staunen kann. Passend zu seinem kraftvollen Bariton spielt er einen hedonistischen, das Leben in vollen Zügen genießenden Lebemann.

Konstantin Krimmel als Don Giovanni.
Konstantin Krimmel als Don Giovanni. © Geoffroy Schied

Die Rezitative meistert der 32-Jährige ebenso souverän wie das rasche Parlando der Arie „Fin ch'han dal vino“. Sein Meisterstück ist die wie ein Kunstlied subtil ausgedeutete Serenade, und auch im alles fordernden, hochdramatischen Finale mit dem Komtur bleiben keine Wünsche offen. Er  ist, ohne Übertreibung sei’s gesagt, der souveränste Giovanni seit Generationen. Und die bisher manchmal zu beobachtende darstellerische Gehemmtheit hat Krimmel komplett abgelegt: Er spielt, dass die Fetzen nur so fliegen.

Alles ist jung und frisch

Avery Amereaus kräftiger Mezzo passt zu einer modernen, eher kantigen und girliehaften Zerlina. Mit Leporello kann die Regie nicht wirklich etwas anfangen. Und so bleibt der mit schlankem Bass singende, auf alle Mätzchen verzichtende Kyle Ketelsen fast so blass wie normalerweise Masetto, dessen Arie Michael Mofidian hier aber mit einer stimmlichen Statur singt, die auf Giovannis Diener hinausweist. Christof Fischesser ist als Komtur ein wenig hartstimmig und der einzige (relative) Schwachpunkt einer ingesamt runden und vor allem frischen, jungen Besetzung.

Vladimir Jurowski
Vladimir Jurowski © Wilfried Hösl

Die drei Orchester bei Don Giovannis Fest sind ausnahmsweise deutlich hörbar, und es schadet auch nicht, dass die Instrumentierung im Interesse der Deutlichkeit mit einer Gitarre und einem Tamburin nachgewürzt wurde. Julian Perkins begleitet am Hammerklavier nicht nur die Rezitative, sondern auch die technisch wie am Schnürchen laufenden Umbauten. Über die im zweiten Teil eingefügten Zutaten und den Strich in der Scena ultima kann man geteilter Meinung sein, wie überhaupt Jurowskis schroffer Bitter-Mozart nicht jedem gefallen dürfte. Aber alles, was im Graben passiert, hat eine hohe innere Konsequenz und ist sehr individuell vom historisch informierten Stil abgeleitet.

Durch das Finale hinken

Proserpina und Pluto irrlichtern durch das erste Finale, im zweiten Akt entwickelt die Göttin weiterer erotische Gelüste, die zu einer Schlusspointe führen. Spätestens auf dem Friedhof wird deutlich, wozu der mühevoll gezimmerte mythologische Rahmen dient: Er ist eine Krücke, um dem Regisseur gedanklich durch das Finale mit dem steinernen Gast hinken zu lassen, das erfahrungsgemäß mit  jenem psychologischem Standesamts-Realismus nicht zu bewältigen ist, den der Regisseur souverän beherrscht.

Die Überlebenden in der Scena ultima nach Don Giovannis Höllenfahrt
Die Überlebenden in der Scena ultima nach Don Giovannis Höllenfahrt © Geoffroy Schied

Aber das sind Probleme, mit denen jeder „Don Giovanni“  der vergangenen 20 Jahre in und um München zu kämpfen hatte. Die Staatsoper bietet immerhin einen ungewöhnlich überzeugenden Titelhelden aus dem Ensemble auf, dazu runde Besetzung und eine ins letzte durchdachte musikalische Interpretation. Dass die Inszenierung nicht rund läuft, muss man in Kauf nehmen. Aber sie steht weit über der mäßigen Inszenierung Nicholas Hytners (1994) und dem Gesamt-Debakel der rotierenden Container von 2009. Ganz glücklich wird man bei dieser Oper szenisch nie, und deshalb braucht sich diese in vielen Momenten hochoriginelle Neuproduktion vor nichts und niemandem zu verstecken. 

Die Aufführung vom 6. Juli wird ab 19 Uhr als "Oper für alle" bei freiem Eintritt auf den Marstallplatz und ins Internet übertragen

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