Interview

Theatergemeinde München neu erfunden: Austausch auf Augenhöhe

Die Theatergemeinde hat sich als "Kulturklub" reorganisiert. Die Vorstandsvorsitzende Jennifer Becker im AZ-Interview.
von  Mathias Hejny
Jennifer Becker ist Vorstandsvorsitzende der Theatergemeinde.
Jennifer Becker ist Vorstandsvorsitzende der Theatergemeinde. © Daniela Pfeil

München - Das Image dieses gemeinnützigen Vereins ist nicht das einer besonders hippen Organisation.

Dabei wurde die Theatergemeinde München 1919 kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs gegründet, um der gerade erst keimenden deutschen Demokratie ein sicheres kulturelles Fundament zu schaffen.

Ein langes Stück wie "Das Vermächtnis" im Residenztheater sehen und anschließend genauso angeregt darüber diskutieren, wie vorher auf der Bühne debattiert wurde: Das ist die neue Idee der Theatergemeinde, die sich nun als Kulturklub Thea versteht.
Ein langes Stück wie "Das Vermächtnis" im Residenztheater sehen und anschließend genauso angeregt darüber diskutieren, wie vorher auf der Bühne debattiert wurde: Das ist die neue Idee der Theatergemeinde, die sich nun als Kulturklub Thea versteht. © Sandra Then

Seit August letzten Jahres ist die aus dem Schwäbischen stammende Jennifer Becker Vorstandsvorsitzende – mit der Absicht, aus der Gemeinde eine Community zu machen, die auch über das Theater hinaus viele Wege zur Kultur eröffnet.

Jennifer Becker: "Unsere Servicestelle ist als Kulturvermittlerin tätig"

AZ: Frau Becker, Sie sind seit 14 Monaten im Amt. Wie war diese Zeit?
JENNIFER BECKER: Aufregend, denn es ist ein fortwährender Veränderungsprozess. Wir haben uns als "Thea Kulturklub" neu definiert, um mit einem zeitgemäßen Begriff zu arbeiten. "Theatergemeinde" ist heute nicht mehr vermittelbar, obwohl die Idee der Community nach wie vor trägt, was wir noch stärker betonen werden. Wir sind eine Gemeinschaft von 15.000 Kulturschwärmerinnen und -schwärmern aus München und der Region. Unsere Servicestelle ist als Kulturvermittlerin tätig. Der Thea Kulturklub hilft Menschen, die ein bis zwei Mal im Monat etwas Kulturelles erleben wollen, durch die Vielfalt des Angebots.

"Thea Kulturklub" lockt mit unterschiedlichen Formaten

Was passiert denn im Klub?
Die Thea ist wie die gute Freundin, die einen guten Kulturtipp gibt. Über die Einzelberatung hinaus haben wir sechs Programmlinien als Kulturleitsystem entwickelt wie beispielsweise die "Gute Zeit" für Menschen, die einen schönen Abend haben wollen, der nicht zu schwer, nicht zu lang und qualitätsvolle Unterhaltung ist. Das auch mal mit Erkenntniswert, der aber nicht so sehr im Vordergrund steht wie bei unserer Linie "Anspruchsvoll" für Kulturfans, die Herausforderungen erwarten. Oder es gibt "Neuland" für die, die Avantgarde und ungewöhnliche Formate suchen. Eine andere Programmlinie heißt "Familie", weil es wichtig ist, auch verschiedene Generationen zusammenzubringen.

"Bei uns kommt man lockerer mit neuen Kulturinteressierten ins Gespräch"

Zumindest die großen Häuser haben ihre eigenen Abonnementsysteme. Was ist der Mehrwert bei Ihnen?
Die Idee ist, Alternativen zu festen Abostrukturen zu eröffnen. Wir leben heute alle so flexibel und wollen das auch sein. Wir schätzen auch die Vielfalt, aber gleichzeitig ist das reichhaltige Münchner Kulturangebot kaum zu überblicken. Der Thea Kulturklub setzt Beratung und Vermittlung gegen Überforderung. Da kommen wir noch einmal zum Community-Gedanken: Wir besuchen gemeinsam Stücke, beispielsweise mit 180 Klubmitgliedern zu "Cinderella" ins Nationaltheater und hinterher unterhalten wir uns bei einer Zusammenkunft und einem Getränk über das, was wir erlebt haben. Es kommen auch Theaterleute hinzu, die persönlicher und anders mitreden als bei einer Einführung. Dort fühlt man sich manchmal etwas unpassend, weil man den Theaterwissenschaftler, der gerade etwas zu erklären versucht, nicht versteht. Bei uns hingegen kommt man lockerer mit neuen Kulturinteressierten ins Gespräch, bei dem ein direkter Austausch auf Augenhöhe entsteht.

Jennifer Becker: "Gereizt hat mich die Grundidee der Theatergemeinde"

Ihr Vorsitz ist eine ehrenamtliche Tätigkeit. Beruflich arbeiten Sie für Kulturreferent Anton Biebl als Pressesprecherin. Gibt es da Konfliktpotenzial?
Natürlich trenne ich meine ehrenamtliche Tätigkeit und meine Arbeit im städtischen Kulturreferat klar voneinander. Für mich ist es ein spannender Perspektivwechsel, weil wir uns im Referat als kommunaler Förderer von Kunst und Kultur grundsätzlich und strukturell damit beschäftigen, was die Künstlerinnen und Künstler in dieser Stadt brauchen. Und im Ehrenamt bei der größten deutschen Publikumsorganisation bin ich ganz nah an den einzelnen Menschen und ihren unterschiedlichen kulturellen Bedürfnissen. In Zeiten, in denen Vereinsstrukturen fast schon anachronistisch erscheinen, habe ich mich natürlich gefragt, ob ich mich in ein Vorstandsamt hineinbegeben möchte. Gereizt hat mich die Grundidee der Theatergemeinde, die schon vor einem Jahrhundert die Forderung nach kultureller Bildung und Teilhabe für alle aus einem bürgerlichen Engagement heraus erfüllte.

Dem Theater wird vorgeworfen, sich immer weiter von seinem Publikum zu entfernen. Wie sieht Ihre Klientel das?
Wer im Sommer bei 30 Grad das Residenztheater für "Das Vermächtnis" mit zwei Mal drei Stunden oder das zehnstündige Theaterspektakel "Dionysos Stadt" in den Kammerspielen besucht, gilt eher als Theaterfreak. Aber wenn man mal drin ist, ist das wie Binge-Watching bei Fernsehserien. Das zieht live so hinein, dass die Stunden einfach verfliegen und das Freibad vergessen wird. Wir wollen mit dem Thea Kulturklub dazu beitragen, für solche großartigen Erlebnisse eine breitere Aufmerksamkeit zu erreichen.

"Was wir heute wollen, ist der offene Austausch über das, was wir gesehen haben"

Gibt zwischen den Theatermachenden und Ihnen einen Diskurs über Inhalte?
Den suchen wir und umgekehrt ganz intensiv. Der Thea Kulturklub ist kein Kartenvertrieb, sondern vermittelt Informationen und Inspiration. Wir verstehen uns einerseits als Lobby des Publikums, andererseits als Partner der Kulturinstitutionen, und manchmal als Übersetzungsdienstleister. Es ist sehr spannend, welche Diskussionen geführt werden. Wenn die Bühnen und unsere Community zusammen Events veranstalten, sind diese für alle ein Aha-Erlebnis. In der Nachkriegszeit, als wir mit 60.000 Menschen noch größer waren als der FC Bayern, haben wir ganze Vorstellungen für unseren Verein gekauft. Damit hatten wir auch einen gewissen Einfluss. Wenn etwa vermeintlich Ungehöriges zu sehen war, wurde interveniert. Die Theatergemeinde war damals sehr konservativ. Was wir heute wollen, ist der offene Austausch über das, was wir gesehen haben.


Infos unter www.thea.info

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