"Tartuffe" im Residenztheater: Vom Schwein zur Kapitalistensau

München. Plaudertaschen sind die Figuren, die Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière, erfand, schon immer gewesen. Wenn Meinrad Jungblut, genannt Peter Licht, sich dem Personal der Rokoko-Komödien angenommen hat, leiden sie darüber hinaus unter einer schweren Logorrhöe und zerlabern die Welt, wie es ihnen gefällt. Und wenn Claudia Bauer Peter Lichts Molière-Übermalungen inszeniert, dann ist das Tempo so hoch, dass über weite Strecken gar nicht auffällt, wie dünnflüssig dieser Sprechdurchfall ist.
Der frömmelnde Heuchler Tartuffe
"Tartuffe oder Das Schwein der Weisen" stammt noch aus der Baseler Erbmasse, die Andreas Beck ans Residenztheater mitbrachte und ist 2019 mit einer Einladung zum Berliner Theatertreffen geadelt worden. Vom frömmelnden Heuchler Tartuffe ist bei der Zeitreise aus dem 17. Jahrhundert, als man die Vernunft entdeckte, in unsere Epoche der Selbstverliebten und Selbstoptimierer nur wenig geblieben.
Das Bühnenbild von Andreas Auerbach zitiert den klassisch gewordenen Werbespot für den Chanel-Duft "Egoïste" aus dem Jahr 1990. Die vielen Balkontürläden in der Fassade, hinter der nur ein Gerüst steckt, laden ein zu lebhaftester Tür-auf-Tür-zu-Dramaturgie. Hausherr Orgon ist davon so überfordert, dass Florian von Manteuffel virtuos in die ganz große Clowns-Kiste greifen kann.
Tartfuffe fällt bei allen in Ungnade
Freunde dürfen Orgi sagen, und Monsieur Orgon hat viele Freunde. Der Neue hier ist ein geheimnisvoller Monsieur Tartuffe, den alle Tüffi nennen und der als Schwein verkleidet Seminare für ein befriedigenderes Sexlife veranstaltet. Wie auch bei Molière fällt Tartuffe bei allen, die an ihn glaubten, in Ungnade und wird als der Schweinepriester enttarnt, der er ist. Während im Original der König mit einem Gnadenakt eingreift, regeln bei Peter Licht die Zahlungsbedingungen im Vertrag das Folgende und der Seminarbetrieb fängt nach knapp drei Stunden wieder von vorne an.
Das Leben ist entweder nur "geil" oder "ungeil"
Zum Glück endet der Restart nach drei Stunden in einer langsamen Ausblende. Aber die grandios aufspielende Truppe vom Resi macht aus den ständigen Aufgeregtheiten der Clique im Hause Orgon bunt und laut sprachkritische Satire. Das Leben hier ist entweder nur "geil" oder nur "ungeil", man beklagt die "Tendenz zur Entgeilisierung", findet aber Vieles völlig "okay" und die am häufigsten gestellte Frage lautet "Häh?". Das ständig über Allem lastende F-Wort wiederum fällt nicht, sondern man "kontextualisiert".
Tüffi (Nicola Mastoberardino) verlässt sich nicht ausschließlich auf sein hypertrophes primäres Geschlechtsteil, sondern baggert die Damen mit Konversation im Phrasenduktus des frühen 21. Jahrhunderts an: "Eins muss ich Ihnen sagen, werte Frau Elmire, und da hab ich kein Problem mit, echt kein Problem, und Sie werden sehen, dass ich es wirklich nicht habe, also das Problem". Und bevor Elmire (Myriam Schröder), Orgis Gattin, in Tüffis Arme sinkt, zeigt sie Verständnis: "Kein Problem, da hab ich kein Problem mit, wenn jemand kein Problem mit was hat".
Aus dem geilen Schwein wird die Kapitalistensau
Von der barocken Kostümpracht von Vanessa Rust sind in diesem Moment nur die Mieder geblieben und aus dem geilen Schwein, das mit dem elektronisch gestützten Trompetensound von Henning Nierstenhöfer markerschütternd grunzen kann, wird die profitorientierte Kapitalistensau. Während auf der Bühne weiterhin beteuert wird, keine Probleme mit was zu haben, wächst in den Zusehenden das Problem mit der Überfrachtung einer schrillen Farce mit Zeugs wie der "Ausstülpungslogik des Kapitalismus". Der Showdown, in dem dann auch noch mit einer völlig von Sinn befreiten Maskerade aufs Metatheater nicht verzichtet wird, zieht sich hin. Das ist schade, denn der Schweinkram hätte so affengeil sein können.