Sandra Strunz über "Als lebten wir in einem barmherzigen Land"
Eine der großen Überraschungen des vergangenen Bücher-Frühlings kam aus Schottland. A. L. Kennedy legte mit "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" eine Generalabrechnung über Politik und Gesellschaft im Vereinigten Königreich zwischen Margaret Thatcher und Boris Johnson vor. 1984 unterwandert ein V-Mann der Polizei mit der Lizenz zum Töten eine linke Theatergruppe. Zwischen ihm und Anna, die heute Grundschullehrerin ist, entstand eine Beziehung. 35 Jahre später bittet der verdeckte Ermittler bei der vom Staat beobachteten Aktivistin um Vergebung für die vorgetäuschte Liebesgeschichte, vor allem aber für seine Morde. Eine Bühnenfassung des Romans hat heute Abend in den Kammerspielen Premiere in der Inszenierung von Sandra Strunz.
AZ: Frau Strunz, Sie geben mit dieser Inszenierung Ihr Debüt bei den Münchner Kammerspielen. Wie fühlt sich das an?
Sandra Strunz: Die Atmosphäre hier am Haus mit allen Gewerken und den verschiedenen Abteilungen ist einerseits künstlerisch auf besonders hohem Niveau, aber andererseits auch in der Kommunikation und im Umgang miteinander sehr herzlich. Ich bin davon extrem angetan.

Der Roman ist in Großbritannien noch nicht erschienen und wurde zuerst in Deutschland veröffentlicht. Das war im April vergangenen Jahres. Selten kam Literatur so schnell auf eine Bühne. Was macht den Text so dringend?
Er beschreibt das Dilemma, in dem wir uns gerade und nicht nur in Großbritannien befinden. Jetzt fanden die Demonstrationen gegen Rechts statt. Es geht um diese Fragen: Was ist gut? Was ist böse? Es geht auch um die Verantwortung, die jedes einzelne Individuum und eine Regierung dafür trägt, das Gute zu wollen und dafür einzustehen, während gleichzeitig alles den Bach runter geht.
Hatten Sie Gelegenheit, am vergangenen Sonntag an der Demonstration teilzunehmen?
Ich stand mit der Theater-Community sehr weit vorne und fand es auf eine gewisse Weise toll, dass sie wegen der vielen Menschen aufgelöst werden musste. Es ist gut, dass das ein Thema ist, das sich so durchzieht. Ich finde diese Bewegung sehr wichtig. Deshalb ist es auch notwendig, ein solches Stück Literatur auf die Bühne zu bringen.

Zwei zentrale Ereignisse des Romans sind auch noch in frischer Erinnerung: Der Ausstieg Großbritanniens aus der EU und die Corona-Pandemie. Welche Bedeutung haben die politische Entscheidung und die Seuche für Ihre Inszenierung?
Den Brexit haben wir mehr oder weniger weggelassen und das Stück für das deutsche Publikum lesbar gemacht. Aber es gibt diese Form des korrupten Politikers und das Thema des Politikers, der während eines Lockdowns wilde Koks-Partys veranstaltet. So etwas gab es bei uns nicht, dafür anderen Missbrauch von Macht während der Pandemie. Die große Erosion in England nach dem Brexit, das Verschwinden der Kultur, weil es kein Geld dafür gibt und auch das Verschwinden der sozialen Komponente eines Landes haben wir in dieser krassen Zuspitzung nicht. Wir leben aber auch nicht in einem barmherzigen Land, und es gibt den Geheimdienst, der Gruppen unterwandert. Im Moment liegt der Fokus auf der rechten Seite, jahrzehntelang galt die linke Seite als die ganz große Gefahr.
Buster, wie sich der V-Mann nennt, erinnert entfernt an James Bond.
Das Interessante an dieser Figur ist, dass sie sehr klug und nicht einfach ein Killer ist. Buster ist, und da wird es politisch, der festen Überzeugung, dass die Lizenz zum Töten richtig und relevant ist. Natürlich ist fraglich, ob der Zweck die Mittel heiligt. Das macht das Duell zwischen Anna und Buster so interessant, denn beide sind überzeugt davon, im Sinne des Guten zu handeln. Die Grausamkeit, zu der er sich abrichten ließ, gehört zu seiner Überzeugung, die Welt zu verbessern.

Kennedy bezeichnete ihren Roman als "apokalyptisches Märchen über das dumme Ende eines sehr dummen Landes". Es scheint, sie gehe nicht sehr barmherzig mit ihrem Land um. Oder täuscht das?
Nein. Diese extreme Kritik am Brexit und der totale Angriff auf Boris Johnson oder Nigel Farage ist mit Sicherheit ein Grund dafür, dass das Buch in England noch nicht erschienen ist.
Liest man Kritiken zu Ihren Inszenierungen, fällt auf, dass häufig davon die Rede ist, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler an ihre Grenzen und sogar darüber hinaus kommen. Wie arbeiten Sie hier mit Wiebke Puls und Edmund Telgenkämper?
Sie würden wahrscheinlich sagen, dass ich sie an ihre Grenzen führe. Wir reden viel darüber, dass diese Figuren sich selbst und ihre Positionen vor dem Anderen erkämpfen müssen und dass das etwas kostet. Ganz praktisch sind die Herausforderungen auch darin angelegt, dass sie verschiedene Figuren spielen und es ein Wahnsinn ist, den Abend zu zweit zu spielen. Das ist physisch und psychisch sehr anstrengend. Ich will immer sehen, wie weit man im Schmerz und in der Agonie gehen kann. Wahrscheinlich bin ich da unbarmherzig, obwohl ich finde, dass auch im Theater mit viel Liebe und einer großen Geduld miteinander umgegangen werden soll.
Münchner Kammerspiele, nächste Vorstellungen am 31. Januar, 4., 18. Februar, Karten unter Telefon 23396600
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