Rubén Dubrovsky: An der Oberfläche kratzen

Er debütierte am Haus mit Händels "Semele", später folgte Rossinis "La Cenerentola". Man verstand sich gut, und in der nächsten Spielzeit wird Rubén Dubrovsky neuer Chefdirigent des Gärtnerplatztheaters. Ein Jahr vor Amtsantritt hat er nun Igor Strawinskys Oper "The Rake's Progress" einstudiert, deren Premiere am Freitag (7. Oktober) stattfindet.

AZ: Herr Dubrovsky, Sie gelten als Barockspezialist. Werden Sie den Spielplan des Gärtnerplatztheaters in diese Richtung lenken?
RUBÉN Dubrovsky: Eher könnte es sein, dass sich gewisse Eigenschaften, die in der Barockmusik unbedingt notwendig sind, auch in der romantischen oder der modernen Oper zeigen werden, wo sie auch notwendig sind: Durchsichtigkeit im Klang, Eigenständigkeit der Stimmen, die Suche nach dem Unterschied von dem, was im Notentext steht und dem, was der Komponist will und was die Musik braucht. Dieses Verhältnis ist nie eins zu eins; die Partitur ist nur ein Teil der Information dessen, was wir brauchen, um Musik zu machen.
Rubén Dubrovsky: "Für das Musical haben wir exzellente Fachleute"
Werden Sie – was ja zur DNA des Hauses gehört – auch Operetten und Musicals dirigieren?
Ich werde mich in allen Stilen bewegen, von Barockmusik bis hin in die zeitgenössische. Ich bin ja in Wien zuhause und habe dort als Cellist viel Operette gespielt, die "Fledermaus" sogar öfter als jede Barockoper! Für das Musical haben wir exzellente Fachleute, aber auch das kann passieren.
Sie beschäftigen sich intensiv mit südamerikanischer Volksmusik. Wirkt sich das auch auf Ihr Musizieren aus?
Die Volksmusik der ehemaligen Kolonien von Spanien mischt die damalige europäischen Kunstmusik mit der Musik der Ureinwohner und, am wichtigsten, der Musik der afrikanischen Sklaven, die dorthin gebracht worden waren. Diese Musik ist als Dauerzustand polyrhythmisch und der Ursprung vieler barocker Formen, auch wenn viele Europäer das nicht wissen: von Tänzen wie der Sarabande, der Chaconne, der Habanera. Deswegen finde ich es sehr wichtig, diese traditionelle Musik zu kennen, was auch die Art verändert, klassische Musik zu spielen, die zwar ein Destillat ist, aber in der traditionellen wurzelt.
"Wir wollen Volks- und Kunstmusik direkt nebeneinander stellen"
Lässt sich das ins Programm des Gärtnerplatztheaters einbringen?
Wir werden auch symphonische Konzerte spielen mit Kunstmusik, die mit traditioneller Musik aus der ganzen Welt verbunden wird, von Spanien mit seinem Flamenco und Süditalien mit seiner Tarantella über Osteuropa bis nach Südamerika und Nordamerika. Wir wollen Volks- und Kunstmusik direkt nebeneinander stellen, damit man erleben kann: Woher kommt das alles und was hat die Kunstmusik daraus gemacht?
Was verändert sich dadurch an der Art, Musik zu machen?
Das wichtigste ist, das Notenbild nicht als gegebene Tatsache zu sehen, sondern als Teil eines lebendigen Organismus´. Die Lebendigkeit einer Volksmusik vermissen wir oft in der klassischen Musik, weil die Noten uns erst einmal im Weg stehen. Werktreue bedeutet, dass ich mir den Text zu Eigen mache wie ein Schauspieler, um ihn frei spielen zu können. Ich verändere ihn dabei nicht etwa, sondern spiele schon das, was da steht, aber so, als hätte ich es schon das ganze Leben gespielt oder würde es mir in diesem Moment einfallen.
Kommerzialisierung ist für Volksmusikanten Gift
Ist der Zugang zu authentischer Volksmusik überhaupt noch problemlos möglich?
Ja. Es gibt immer noch echte Volksmusikanten, nicht zuletzt in Bayern! Natürlich ist Kommerzialisierung Gift, weil sie alles platt macht, aber man muss nicht weit unter der Oberfläche kratzen, um Echtes zu finden.
In seiner Oper "The Rake´s Progress" schreibt Igor Strawinsky penibel vor, wie er die Musik gespielt haben möchte. Ist es da noch möglich, quasi zu improvisieren?
Strawinsky ist ein Meister darin, Erwartungen zu schaffen, zu enttäuschen und zu verunsichern. Ein Beispiel ist der Rhythmus. Er schreibt etwa ein Motiv, in welchem der Bass auf der Eins einsetzt und die anderen Instrumente einen Nachschlag spielen: also alles ganz regelmäßig. Nun aber ändert er diese Anordnung, ohne dass man es merkt. Plötzlich hinkt der Bass sozusagen hinterher. Diese Zustände müssen wir erleben, es reicht nicht, das bloß auszuführen. Oder nehmen Sie die Harmonie: Oft schreibt Strawinsky eine Melodie, die sehr einfach zu harmonisieren wäre, fügt aber Begleittöne hinzu, die mit dieser Melodie scheinbar nichts zu tun haben. Wir haben mit unseren Sängerinnen und Sängern so gearbeitet, dass sie solche Melodien erst zusammen mit traditionellen, "richtigen", Akkorden gelernt haben, und erst später das hinzugefügt, was Strawinsky tatsächlich geschrieben hat, damit man diese Spannung wirklich spüren kann.

Ist das kein Schock für die Sänger, wenn die Töne auf einmal nicht mehr stimmen?
Ja, ist es. Aber der Unterschied ist: Die Sänger sind, wenn sie ihre Rollen mit dem Korrepetitor einstudieren, daran gewöhnt, zu denken, dass das Klavier recht hat und ihre Töne nur sozusagen dazu passen. Hier ist es umgekehrt: Der Sänger hat mit seiner Melodie recht und die Harmonie ist der Modifikator. Wenn der Sänger das sehr stark spürt, entsteht eine noch viel höhere Spannung.

"Strawinsky hat Barockmusik erstaunlich gut verstanden"
Strawinskys Oper bezieht sich auf barocke und klassische Musik. Ist sein Bild der Alten Musik, das aus den 1940er, 1950er Jahren stammt, heute nicht veraltet?
Konflikte bestehen nicht so sehr mit der Musik, sondern mit der Schreibweise. Ich finde, dass Strawinsky Barockmusik erstaunlich gut verstanden hat, nur hat er für Musiker geschrieben, die ein ganz anderes Bild von ihr hatten. Deswegen sind die Zeichen, die er verwendet, für Musiker gedacht, die die Revolution der Aufführungspraxis seit den 1980er Jahren natürlich nicht mitgemacht haben konnten. Meinen heutigen Musikerinnen und Musikern sage ich dann immer, dass diese Zeichen bedeuten: Spielt quasi normal, nach heutigen Maßstäben lebendiger Artikulation. Wenn wir diese Zeichen heute wörtlich nehmen und somit übertreiben, machen wir eine Karikatur daraus.

Ist nicht auch ein Moment einer solchen Übertreibung Teil des Werkes? Als Verfremdung?
Die gibt es. Nur macht er sich diese alte Musik so sehr zu Eigen, dass sie gar nicht mehr wirkt wie Barockmusik, sondern wie die eines Strawinsky, der inspiriert ist von alter Musik, genauso, wie ein Picasso sich von afrikanischer Kunst inspirieren lässt, die Kunst aber seine eigene bleibt. Deswegen gibt es hier für mich keinen Konflikt: Strawinsky wollte nicht tatsächlich Barockmusik komponieren, sonst hätte er gesagt: Spielt Vivaldi!
Gehen Sie auch von Strawinskys eigenen Einspielungen der Oper aus?
Seine Aufnahmen sind sehr interessant, weil sie viel weniger streng sind als der Notentext, schon in den sehr flexiblen Tempi. Ich wähle in dieser Produktion viel flüssigere Tempi, als Strawinsky sie vorschreibt, einfach, weil wir hier mit leichteren Stimmen arbeiten. Tempi sind ein Anhaltspunkt, wie die Lautstärke, nur, dass wir für die Tempi eine Metronomzahl angeben können. Es kommt aber letztlich auf den Kontext an.
Premiere am 7. Oktober, 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen am 9., 13., 15., 21. und 23. Oktober sowie im November. Karten unter gaertnertheater.deund Telefon 2185 1960