Rossinis "Guillaume Tell" im Nationaltheater
Auf der leeren Bühne erscheint ein Mann im Smoking. Gibt der etwa bekannt, dass ein Sänger heiser oder in letzter Sekunde ersetzt werden soll? Nein. Während das Orchester mit dem Silberstift ein Naturidyll ausmalt, wird der Herr nach allen Regeln der Kunst brutal zusammengeschlagen.
Der Regisseur Antú Romero Nunes stellt gleich zu Beginn unmißverständlich klar, was Rossinis Oper erst nach einer halben Stunde Alpenpastorale offenlegt: Diese Schweiz ist ein vom Deutschen Reich mit harter Hand regiertes Land. Flüchtige Zuschauer hätten den Aufstand der Schweizer ohne diesen Einstieg möglicherweise allein auf das Sodbrennen von Wilhelm Tell zurückgeführt: So verdrossen schaute Michael Volle als Wutbürger im gestreiften Pollunder die ganze Zeit drein.
Bei näherem Hinsehen erweist sich der Freiheitsheld als zwielichtige Gestalt. Er hat bei der Ermordung des alten Melchtal die Finger drin. Mit Hilfe dieser inszenierten Gewalttat heizt er die saturierten Schweizer Spießer zum Aufstand gegen die Zentralmacht auf. Die schwenkt als Geßlerhut eine EU-Fahne und lässt die von einem kleinen Mussolini (Kevin Conners als Rodolphe) kommandierte Polizei aufmarschieren.
Die Ouvertüre als Alptraum
Nunes hat eine seltene Begabung, die für den 1829 in Paris uraufgeführten „Guillaume Tell“ unverzichtbar ist: er kann Chöre symmetrisch aufmarschieren lassen, ohne dass es langweilig aussieht. Die schwebenden Röhren von Florian Lösches Bühnenbild öffnen, schließen und gliedern den Raum. In den Arien inszeniert Nunes scharf charakterisierendes Rampentheater, wie man es noch nie gesehen hat. Das Risiko, dem jungen Tübinger als erste Opernregie ausgerechnet dieses ausufernde Kolossalwerk anzubieten, hat sich voll ausgezahlt. Nur: Von den billigen Plätzen sieht man alles leider nur schlecht.
Das Finale des dritten Akts bricht nach dem Apfelschuss ab. Nach der Pause wird die berühmte Ouvertüre nachgereicht: als psychologisch klug inszenierter Albtraum von Tells Sohn, der in seiner Überidentifikation mit seinem Vater zu faschistischen Anwandlungen neigt. Dann geht der Streit zwischen den Schweitern und dem von Günther Groissböck kraftvoll gesungenen Landvogt weiter.
Dan Ettinger dirigiert die maßvoll gekürzte Partitur eher unfranzösisch, sondern kraftstrotzend und mit energischem Schwung. Aber es gelingt ihm, die bisweilen unter der avancierten Romantik aufblitzende Banaliät zu vermeiden. Und das passt wie die jugendlich frische Regie zum Opernspätwerk eines 35-jährigen Komponisten.
Wo Richard Wagner klaute
Michael Volle setzt als Tell seine baritonale Kraft bewusst ein. Er singt mit reichem Ausdruck und der Differenziertheit eines Liedinterpreten. Es ist die glänzende Rückkehr dieses Sängers, der 2011 enttäuscht das Ensemble der Staatsoper verließ. Evgeniya Sotnikova singt und spielt Tells Sohn Jemmy als szenisch-musikalisches Gesamtkunstwerk eines pubertierenden Kindes. Es ist kaum zu glauben, dass da eine Frau in den Hosen steckt. Und gleich noch eine Entdeckung: Marina Rebeka als Mathilde – eine genuine Vokalistin, technisch hochversiert und mit einem attraktiven Timbre. Bryan Hymels metallisch-heller Tenor ist nicht im klassischen Sinn schön, aber staunenswerter singt die vielen hohen Cs der Cabaletta im vierten Akt kein lebender Sänger.
Ein Bravo verdienen auch die vielen kleinen und trotzdem schwierigen Nebenrollen wie der Fischer Ruodi (Enea Scala). Hier triumphiert die Ensemble- und Nachwuchsarbeit der Bayerischen Staatsoper. Am Ende leuchtet die gewalttätig errungene Freiheit in fahlem Orange. Rossini lässt dazu im Orchester einen Regenbogen erstrahlen, den Richard Wagner im „Rheingold“ gnadenlos beklaut hat: drei grandiose Minuten, die für manches Geklingel entschädigen.
Wieder am 6., 9. und 13. Juli im Nationaltheater, Restkarten unter Tel. 2180-1920